Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Im Finstern wohnen Die Adler und furchtlos gehn Die Söhne der Alpen über den Abgrund weg Auf leichtgebaueten Brücken. Drum, da gehäuft sind rings Die Gipfel der Zeit, und die Liebsten Nah wohnen, ermattend auf Getrenntesten Bergen, So gib unschuldig Wasser, O Fittige gib uns, treuesten Sinns Hinüberzugehn und wiederzukehren. So lautet die Einleitung zu einem großen längeren Gedicht von Friedrich Hölderlin das den Titel "Patmos" trägt. Im Laufe der Jahre hab ich mir dies Gedicht immer wieder, meist im Stillen, manchmal aber auch laut vorgelesen oder aus dem Gedächtnis aufgesagt. Mir drängt es sich als Reisegedicht ersten Ranges auf, denn Patmos möchte sinnbildlich der entfernteste Ort sein, wohin ich mich wagte; und im Halbtraum gestern Nacht verschmolzen die entlegensten Stätten, Patmos und Wien und Los Angeles als vorstellbare Orte der Offenbarung. Denn unverkennbar ist es, dass wo immer ich mich gegenwärtig befinde, sich mir keine Offenbarung bietet. Offenbarung liegt, ihrem Wesen gemäß, in der Ferne; und die Unerreichbarkeit der Ferne bewirkt der Offenbarung Transzendentalität. Du wirst Patmos als die kleine Insel im Ägäischen Meer erinnern wo der heilige Johannes die Offenbarung der kosmischen Zeitlichkeit empfing. Mit seiner Hymne an Patmos bringt Hölderlin sein Bedürfnis diese Offenbarung des Johannes nachzuvollziehen zum Ausdruck. Die ersten beiden Zeilen des Gedichts: Nah ist Und schwer zu fassen der Gott. spiegeln die Entschlossenheit der deutschen Philosophen, worunter Hölderlin der tiefste und unerkannteste ist, ihr Denken auf einem Urgrund zu befestigen, das heißt, auf Gott. Nietzsche hat es erklärt: "Man hat nur das Wort »Tübinger Stift« auszusprechen, um zu begreifen, was die deutsche Philosophie im Grunde ist – eine hinterlistige Theologie." (Hölderlin, Hegel und Schelling waren seiner Zeit Komilitonen im Tübinger Stift.) Dass Gott dem Menschen "nah" sein sollte, hat Hölderlin gelernt von Mystikern wie Angelus Silesius. Der hat immer wieder behauptet: Gott ist in dir. vgl. mein Sonett 112: "Welt außer mir ist Schein, wird wirklich erst wenn's Gott verbürgt. Der ist? Erinn're mich! Gott ist in Dir und deshalb ist Gott Ich. Gott ist Dein Ich dem Du den Rücken kehrst." Die Inwendigheit Gottes verbürgt die Harmlosigkeit Gottes; denn nur innerhalb, nur als Bestandteil des Ich ist Gott freundlich; hingegen außerhalb des Ich wird Gott dem Ich bedrohlich, wenn nicht gar feindselig. Zugleich aber ist was innerhalb des Ichs besteht unverbrüchlich geheimnisvoll und deshalb nicht mitteilbar. Der mitteilbare, der außerhalb des Ichs waltende Gott ist sehr gefährlich. Der Dichter ist Prophet; und die ihm offenbarten Geheimnisse mitzuteilen ist sein Amt. Dichtung ist "Evangelium", und als solches ist sie Drohung. Dass Hölderlin sich dieser Widersprüche, wenn auch unbewusst, bewusst gewesen sein möchte, ließe sich aus späteren Fassungen dieser Strophen schließen. Da heißt es: Voll Güt ist; keiner aber fasset Allein Gott. Vom Gesellschaftsgott den der einzelne Mensch allein nicht zu fassen vermag, ist es vielleicht notwendig zu betonen, dass er "Voll Güt ist". Eine weitere Unstimmingkeit ergibt sich aus dem Gebrauch in der Urform des Gedichts des sokratischen Ausdrucks "Und schwer zu fassen der Gott"; indessen spätere Prägungen sich Mosäischer Sprache bedienen: "keiner aber fasset allein Gott." "Der Gott", mit dem bestimmten Artikel "der" bezeichnet, ist umständlich und menschenfern; indessen der einfache "Gott", bar des bestimmten Artikels "der", unumständlich, unmittelbar ist, und somit fast unnennbar und quasi ungenannt. Die dritte und vierte Zeile bestätigen die Bedrohlicheit Gottes: Wo aber Gefahr ist, wächst Das Rettende auch. Gott ist gefährlich, aber die Rettung entspringt der Natur wie ein Gewächs. In Menons Klagen um Diotima (eine Elegie von Hölderlin) heißt es vom tödlich verwundeten Wild: Und wie ihm vergebens die Erd' ihr fröhliches Heilkraut Reicht, und das gärende Blut keiner der Zephire stillt, So, ihr Lieben! auch mir, so will es scheinen, und niemand Kann von der Stirne mir nehmen den traurigen Traum? Genau aber was den Menschen gegen den Zorn des Gottes feien möchte erwähnt Hölderlin nicht. Stattdessen bezieht er sich auf einen weiteren Widerspruch, nämlich den, dass die gottähnlichsten der Vögel, die Adler denen mit ihrem Höhenflug ein himmlisches Überblicken der Welt gewährt wird, dennoch zu diesem Flug aus in dunklen Steinhöhlen verborgenen Nestern abheben. Und nun die Angst vor der unmittelbaren Gegenwart des Gottes endgültig vertreibend, zitiert Hölderlin die Furchtlosigkeit der Alpensöhne die auf "leichtgebaueten Brücken", wie auf dem Seil womit Nietzsche seinen Zarathustra als Akrobat des Lebens Tiefen übertanzen lässt, den Abgrund überqueren. Somit ist die Seelenwelt in der wir handeln müssen, dialektisch, in ihrer ganzen Widersprüchlichkeit skizziert. Es ist eine Welt wo die zeitlosen Gipfel der Alpen selbst als Sinnbilder der Zeit erscheinen, wo die Liebsten nah wohnen, ermattend auf getrenntesten Bergen, - in einer späteren Fassung heißt es: "sehnsuchtsvoll, ermattet auf getrenntesten Bergen", und somit trotz ihrer Nähe nur mit mühevoller Anstrengung erreichbar, mittels "schuldlosem Wasser", von dem geschrieben steht: "Und wen dürstet, der komme; wer da will, der nehme das Wasser des Lebens umsonst." (Offenbarung 22,17) und mittels "Fittigen" "treuesten Sinns", sie, die Liebsten zu besuchen, "Hinüberzugehen und wiederzukehren", denn das Leben ist Systole und Diastole, hin und her, und bleiben ist nirgends.