Subject: am 4. August 2015 From: Ernst Meyer Date: Tue, 04 Aug 2015 21:36:51 -0400 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, lieber Bernd, Vielen Dank für Euern liebevollen Geburtstagsbrief an Margaret. Leider ist sie geistig zu verstört davon Kenntnis zu nehmen, und nachdem ich Euch ihren Zustand beschrieben habe werdet Ihr mir verzeihen dass ich den Brief ihr gegenüber überhaupt nicht erwähnt habe, geschweige denn dass ich ihn ihr vorgelesen oder gar zum eignen Lesen abgedruckt hätte. Seit mehreren Jahren leidet Margaret an zunehmendem Gedächtnisschwund. In den vergangenen zwei Jahren hab ich gelernt zu kochen, die Waschmaschine und den elektrischen Trockner zu bedienen, das Bett zu machen und das Haus zu säubern. Bis vor einem Jahr begleitete Margaret mich zum Lebensmittelgeschäft und wartete dort im Auto auf dem Parkplatz während ich einkaufte. Im vergangenen Jahr blieb sie zuhause. Wir benutzten eins der Schlafzimmer im zweiten Stock des Anbaus. Margaret stieg mehrmals am Tage die Wendeltreppe, auf die Ihr Euch besinnt, hinan; abwärts ging sie vorsichtig mit dem Rücken zuerst, um die Gefahr des Fallens zu vermindern. Oftmals vergaß sie meinen Namen, vergaß wo wir waren, vergaß unsere Ehe. Einmal als ich ihr sagte, I'm Jochen and we've been married 63 years, antwortete sie, You mean I married YOU? ein anderes Mal antwortete sie: I don't believe it. Dabei ließ sie mich nicht aus den Augen. All dies änderte sich plötzlich in den letzten zwei Stunden des 25. Juni. Wir hatten spät in der Küche zu Abend gegessen und waren um 22 Uhr die Wendeltreppe in den dritten Stock gestiegen, wo Margaret neben mir saß während ich wie üblich am Rechner schrieb. Um Mitternacht, als wir ins Bett wollten, war es Margaret unmöglich aufzustehen. Sie saß aber in einem geräderten Stuhl der es mir ermöglichte sie an das Einzelbett zu schieben, das zufällig im gegenüberliegenden Zimmer stand. Meine Schwiegertochter Laura half mir Margaret ins Bett zu heben. Ich selber schlief auf dem Fußboden daneben auf einer Luftmatratze. Da Margaret überhaupt nicht gehen konnte, war es uns hinfort unmöglich in unser Schlafzimmer im zweiten Stock zurück zu kehren. Am nãchsten Tage half Nathaniel mir mit dem Aufstellen eines zweiten Bettes im dritten Stock, und ein paar Tage später wurde ein hydraulischer Heber geliefert, der es mir ermöglicht Margaret aus dem Bett in ihren Schaukelstuhl zu befördern und wieder zurück. Heute Nachmittag jedoch war es ihr auch unmöglich in ihrem Schaukelstuhl zu sitzen. Nach einer Visite von Dr. John Wong, einem Kollegen von Klemens der bereit ist Narkotika zu verschreiben falls Margaret sie zur Linderung von Schmerz oder Kurzatmigkeit benötigte, fing Margaret an zu weinen. "Don't let him have it, Don't sell the house." flehte sie mich an. Ob sie meinte Dr. Wong sei der Käufer oder der Makler, hab ich nie erfahren. Und doch, völlig nüchtern und objektiv erwogen, ist nicht selten der Besuch des Arztes, die Einleitung medizinischer Behandlung und Alterspflege, die Vorstufe ungeheurer Geldausgaben welche den Verkauf des Hauses nach sich ziehen. Nicht aber in unserem Falle, denn, wie Ihr wisst, bin ich als Selbstmacher bekannt. I do it myself. Seit fünf Wochen sind wir beide also in dem wunderbar mit sommerlichem Laub umgebenen luftgekühlten dritten Stock des Palais Meyer gefangen. Ein mehr liebsames Gefängnis kann ich mir nicht ausmalen. Hier liegt Margaret nun wochenlang regungslos im Bett. Ich bin Krankenwärter, mit Zeit zum Schreiben, wie zum Beispiel, diesen Brief, nebst manchem Anderen. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre, Margaret noch gegönnt sind, wenn gegönnt der passende Ausdruck ist, in diesem Zustande zu verharren, vermag kein Arzt zu prophezeien. Genesung jedoch ist unmöglich. All dies ist nicht so schrecklich wie es erscheint, denn, wie Dostoevski über Siberien berichtete, der Mensch gewöhnt sich an alles. Zugegeben, es könnte uns besser gehen, aber eingesehen, auch viel viel schlechter. Frage ich Margaret, How do you feel? ist die übliche Antwort: I feel well. Der Schwan Diese Mühsal, durch noch Ungetanes schwer und wie gebunden hinzugehn gleicht dem ungeschaffnen Gang des Schwanes. Und das Sterben, dieses Nichtmehrfassen jenes Grunds, auf dem wir täglich stehn seinem ängstlichen Sich-Niederlassen — ; in die Wasser, die in sanft empfangen und die sich, wie glücklich und vergangen, unter ihm zurückziehn, Flut um Flut; während er unendlich still und sicher immer mündiger und königlicher und gelassener zu zieh'n geruht. Mit diesem Gedicht von Rilke danke ich noch einmal für Euren Geburtstagsbrief und sende Euch beiden herzliche Gruße. Jochen