Subject: am 24. August 2015 From: Ernst Meyer Date: Mon, 24 Aug 2015 19:02:32 -0400 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, lieber Bernd, Es bedarf der Entschuldigung, dass ich Gertrauds lieben Brief so umgehend beantworte. Es ist der Gedankenhaushalt der mich drängt. Ich bin mir bewusst, wie schnell und unwiederruflich ich vergesse, und sage mir betreffs der Antwort, jetzt oder nie, eine Losung mit welcher ich keineswegs beabsichtige Euch zu gleichem Ungestüm zu bewegen. Margarets körperliche und geistige Gesundheit - oder sollte ich schreiben, Krankheit währt unverändert, und ich fahre fort Tag für Tag und Nacht für Nacht sie so gut ich kann zu pflegen. Die beträchtliche Stundenzahl während Margaret schläft verbringe ich mit Vorstudien zum sechsten Bande meines Romanes "Vier Freunde". So machte ich vorgestern folgende Eingabe in den Rechner: Es muss in den Sterbensjahren meiner Eltern gewesen sein, ich schätze etwa 1986, dass ich zum letzten Mal mit ihnen Musik hörte. Meine Eltern saßen zusammen, wie gewöhnlich, im Wohnzimmer in Konnarock unter dem großen Gemälde der abendlichen Nordsee. Meine Mutter bat mich ihr das Sanctus aus der H-Moll Messe aufzulegen, das Stück das sie am meisten liebte. Die betreffende Schallplatte jedoch hatte auf der ersten Spur das Ende des vorangehenden Credo und begann: Confiteor unum baptisma in remissionem peccatorum, mit jenem langsam schleifenden Chor der mich heute ahnen lässt dass möglicherweise Bachs eigene Begeisterung für dies problematischste aller theologischen Themen eine beschränkte war. Und dann die Pause, die Pause als Einleitung in die zögernde Meldung eines durchaus nicht zuversichtlichen et expecto resurrectionem mortuorum welche erst verspätet und plötzlich als ob kaum noch erwartet, in den Jubel der auferstehenden Geigen mündet, als ob mit der Auferstehung der Musik die Auferstehung des Leibes verbürgt werden sollte. Aus dem Schlummer in dem Margaret jetzt eine vorübergehende Ruhe findet, würde sie "unter normalen Umständen" von einem Geistlichen geweckt zwecks des Versprechens einer künftigen Auferstehung vom Tode als Auftakt zu einem ewigen Leben. Ich befürchte mit der Verpflichtung auch dieses Amt zu absolvieren hab ich die Selbstmacherei zu weit getrieben; aber nun ist es zu spät und die Gefahr ist groß, dass Margaret in ihrem jetzigen Geisteszustand nicht mehr vermöchte den guten von dem bösen Engel zu unterscheiden. Wie Rilke beteuert: WER, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verläßlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. O und die Nacht, die Nacht, wenn der Wind voller Weltraum uns am Angesicht zehrt –, wem bliebe sie nicht, die ersehnte, sanft enttäuschende, welche dem einzelnen Herzen mühsam bevorsteht. Ist sie den Liebenden leichter? Ach, sie verdecken sich nur mit einander ihr Los. Weißt du's noch nicht? Wirf aus den Armen die Leere zu den Räumen hinzu, die wir atmen; vielleicht daß die Vögel die erweiterte Luft fühlen mit innigerm Flug. Duineser Elegie I Hier werde ich von Katenus unterbrochen. Ich gebe zu, sagt jener, die Dichterei ist erbaulich, aber sie ernährt nur das Gefühl. Und der Geist bedarf nehr. Über die Dichtung hinaus (oder daneben), sagte Katenus, schlage ich eine weitere Betrachtungsweise vor, nämlich dass uns ein Missverständnis der Zeit und der Zeiten unterlaufen ist, insofern als wir weder die Vergangenheit noch die Zukunft, vor allem aber die Gegenwart nicht zu begreifen vermögen. So verleugnen wir zum Beispiel den Holocaust, die Hölle, indem wir das Unheil an dem wir tagtäglich beteiligt sind in die Vergangenheit verlegen. Gleichfalls verleugnen wir das (ewige) Leben indem wir es in die Zukunft verschieben wo wir es nur als Folge einer unvorstellbaren allgemeinen Auferstehung zu konstatieren vermögen. Es ist uns unmöglich in der Vergangenheit zu leben, denn sie ist nichts als Gemisch von Albdruck und Traum. In der Zukunft vermögen wir nicht zu leben weil sie uns nur ein Lebensmodell, eine Vorstellung in unerreichbarer Ferne ist. Wir leben und wir vermögen zu leben nur in der Gegenwart. Die Gegenwart endet nie; was nie endet ist ewig. Somit ist die Gegenwart das Ewige Leben; und umgekehrt: Das Ewige Leben ist die Gegenwart und nichts sonst. Es ist bemerkenswert, dass die Physiker von der Gegenwart nichts wissen wollen, nichts wissen können, weil die Gegenwart als subjektives Erleben der Wissenschaft unerreichbar ist. So zum Beispiel bleibt die Gegenwart von den Relativitätstheorieen unbeachtet. Hier unterbrach sich Katenus. "Wissen Sie, Lieber Herr Meyer," sagte er. Die Quantentheorie. Die Quantentheorie hab ich völlig außer acht gelassen. Ich hab mich seit Jahrzehnten nicht mit der Quantentheorie befasst. Es ist möglich dass sich die Auferstehung und das sich aus ihr ergebende Ewige Leben durch Quantentheorie erklären lässt. Entschuldigen Sie, dass ich meine Überlegungen unterbreche, bis ich mir erneut ein Verständnis der Quantentheorie erworben habe. Soweit Katenus. Und dabei muss es auch unter uns bleiben, liebe Gertraud und lieber Bernd, denn auch ich bin vorläufig in der Quantentheorie unbewandert. Die üblichen Grüße von uns Dreien an Euch beide aber, die bedürfen keiner quantentheoretischen Grundlage und bleiben nicht aus. Euer Jochen