Subject: Schwierige Gedanken From: "Bernd Strangfeld" Date: Tue, 25 Aug 2015 22:13:37 +0200 To: Ernstmeyer Lieber Jochen, danke für Deinen Brief mit den vielen schönen Texten. Da kann ich mal wieder gar nicht mit, habe aber wieder diese Duineser Elegie "Wer, wenn ich schriee..." mit erneuter Ehrfurcht gelesen. Solch tiefe Gedanken kann ich aber leider in mir nicht erzeugen. Ich stelle mir wieder vor, wie Du neben Margarets Bett sitzt, nachdenkst, empfindest und schreibst, über Rilkes und Deinen eigenen Text nachsinnst und versuchst, all diese schwierigen Gegebenheiten des menschlichen Daseins in Worte zu fassen. Was ist das bloß alles: Verfehlungen, also Sünde, die Verzweiflung, dass man nichts Geschehenes rückgängig machen kann, vielmehr leben muss mit dem Bewusstsein, nicht richtig oder nicht gehandelt zu haben, wo es nötig gewesen wäre; und das Wissen, dass alles vergänglich und endlich ist, wo doch der Gedanke an das Ende für die meisten Menschen nur schwer oder gar nicht zu fassen ist, weil die Sehnsucht nach Dauer offenbar dem Menschen ganz tief eingepflanzt ist.Wie kann die Menschheit über so viele Jahrtausende existieren mit dieser starken Sehnsucht , das Leben, das Schöne, das Gute möge nie ein Ende haben, wo doch die Endlichkeit überall und immer zu sehen ist? Sie baut sich eine imaginäre Welt. Naja, jedenfalls ist das meine Meinung, natürlich unbedeutend und banal. Wen meint denn Rilke wohl mit "Engel"? Warum müssen Engel schrecklich sein? Michael war es, weil er eine höchst unangenehme Aufgabe hatte. Meine Mutter fragte mich, schon spät in ihrem nicht übermäßig glücklichen Leben: Ob wir uns wohl wiedersehen da oben irgendwo? Ich konnte sie nicht versichern. Du machst es ganz bestimmt richtig mit tröstenden, versichernden Worten für Margaret, für die Du doch die allerhöchste Autorität bist, der unbedingter Glaube geschenkt werden kann. Ich finde, wenn etwas beim Sterben erleichtert und hilft, ist es unzweifelhaft erlaubt und richtig. Deswegen machst Du Dir hoffentlich keine Vorwürfe irgendwelcher Art. Du bist vollkommen solidarisch mit Deiner Frau, mit der Du fast Dein ganzes Leben verbracht hast, Du tust alles, was in Deiner Macht steht, um ihr Leben frei von Ängsten zu machen - was trotzdem bleibt an Furcht und Sorge, milderst Du. Mehr geht nicht. Dieser Katenus hat ja wirklich spitzfindige Gedanken! Und natürlich habe ich keinerlei Ahnung von der Quantentheorie und ihren etwaigen Auswirkungen auf die Auferstehung und das ewige Leben. Mein Verstand ist so maßlos beschränkt, leider! So, lieber Jochen, jetzt werde ich mich zu Bett begeben mit einem Kräutertee und noch länger Lesen in der neu erschienen Autobiografie von Oliver Sacks, diesem erstaunlichen Neurologen. Er ist Dir sicher ein Begriff, vermute ich. Wenn nicht, macht es nichts. Ich aber lese ihn mit Interesse . Aus einem seiner Bücher habe ich erfahren, dass er "gesichtsblind" ist, also sich Gesichter überhaupt nicht merken kann, selbst das seiner Assistentin nicht, mit der er 30 Jahre eng zusammengearbeitet hat. Vielleicht gesellt sich Katze Alma noch ein wenig zu mir, kuschelt ein wenig und schnurrt. Ich liebe sie sehr. Sie ist irgendwann in diesem August 13 Jahre alt geworden. Sie hat kein ganz leichtes Leben mit uns, weil wir so viel verreisen. Sie hält klaglos halbe und sogar ganze Tage im Auto durch, meist auf den Konsole zwischen Fahrer und Beifahrer ruhend, und benimmt sich immer tadellos. Bei Euch ist es jetzt hellerlichter Nachmittag. Ich wünsche Euch beiden eine gute Gemeinsamkeit und Dir viele Gedanken für Dein neues Buch. Viele liebe Grüße Euch beiden. Deine Gertraud und Bernd.