Subject: am 29. Januar 2017 From: Ernst Meyer Date: Sun, 29 Jan 2017 20:43:24 -0500 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, lieber Bernd, Vielen Dank für Euern liebevollen Brief. Im hohen Alter ist das Gedächtnis schwach und deshalb vergeht die Zeit sehr schnell. Ich rechne schon 15 Monate sind vergangen seit Margarets Tod und ich bin noch am Leben. Ich vermeide das Klagen, aber wenn, hätte ich gesundheitlich zu klagen nur über meine Hüftgelenke. Vermag nur noch schwerlich ohne Stock zu gehen, und der Sicherheit halber nehme ich ihn regelmäßig; wenn ich in Eile bin sogar zwei Stöcke. Meine Schuhe mit Klettverschluss sind so geräumig dass es überflüssig ist diesen zu lösen. Drei Jahre sind vergangen seit ich zuletzt Schnürsenkel zu verknoten vermochte. Wegen der starken Beschränkung der Beugung der Hüftgelenke wird das Ankleiden jeden Morgen zu einer kleinen Komödie. Aber heute Morgen jedenfalls hab' ichs noch geschafft. Mein Antrag auf Revision in meinen Nantucket Streitigkeiten wurde vor etwa zwei Wochen endgültig abgelehnt, so dass ich nun auch technisch das Verfahren verloren habe. Praktisch war der Verlust ja schon seit Jahren unverkennbar als die Verzögerungen es mir unmöglich machten das Haus mit eigenen Händen fertigzustellen. Wie Ihr Euch vorstellen könnt, ziehen Enttäuschungen dieser Art auch Uneinigkeiten in der Familie nach sich, Meinungsverschiedenheiten die ich stets zu vermindern versuche. Klemens und Laura waren der Meinung es sein meine Starrköpfigkeit, meine Rechtsstreitsucht, und mein Geltungsbedürfnis durch welche die Problematik mit dem Bauamt heraufbeschworen war. Sie hatten sich jedoch stets geweigert die Verhandlungen zu übernehmen. Bis jetzt, wo Klemens erfährt dass der Klempnerboykott sich auch auf seine Bemühungen erstreckt. Er hat nicht eine einzige Antwort auf seine Werbungen, aber seine Kritik an mir hat verstummt. Er hängt an dem Hause und möchte es nicht verkaufen. Ich rede ihm gut zu; beratschlage mit ihm. Wahrscheinlich werden im Laufe von Jahren - nicht Monaten - behördliche Verwandlungen die Fertigstellung des Hauses schließlich doch ermöglichen. Dann aber liege ich längst unter der Erde. Meinerseits ist's Erleichterung den Sommer, wenn ich ihn noch erlebe, unter den hohen Bäumen in Konnarock, auf der Veranda mit dem neu erworbenen schnellen Internetanschluss zu verbringen, meine Phantasie in die Zügel schießen zu lassen und zu schreiben, weitere Sonette und vielleicht auch andere Gedichte, den achten Band meiner Romanreihe, und Briefe wie diesen. Langweilen werde ich mich nicht. Und ganz ehrlich: auch ohne Nantucket verfüge ich über Häuser mit 15 Schlafzimmern (9 in Belmont, 6 in Konnarock) und 8 Badezimmern (5 in Belmont, 3 in Konnarock) Ist nicht solch Luxus eine Schande, ein Skandal, eine Sünde? Ihr fragt nach Nathaniel. Sein Charisma scheint mir von Monat zu Monat zu wachsen. Am vergangen Freitag (27.1.2017) in Cambridge dirgierte er sein Orchester von etwa 55 freiwilligen Musikern in Beethovens Tripelkonzert für Klavier, Geige, und Cello, sowie auch Mendelssohns Reformations-Sinfonie; und wiederholte das Konzert heute Nachmittag in Newton zu begeistertem Beifall. Seine Zukunft ist noch unbestimmt; er bewirbt sich um eine Probe als möglicher Hilfsdirigent der Minneapolis Symphony. Meine ältere Enkeltochter Rebekah ist Tierärztin und hat sich im vergangenen Oktober verheiratet. Scheinbar get es ihr gut. Die jüngere, Leah, studiert in Yale, und der jüngere Enkelsohn Benjamin bereitet sich in Bryn Mawr, wo Margaret studiert hatte, für ein Medizinstudium vor. Klemens und Laura sind in ihren Berufen stark beschäftigt, und ich - wenn Euch mein gegenwärtiger Seelenzustand interessiert, könnt ihr Euch mittels der jüngsten Sonetten, etwa Nummer 170 bis Nummer 182 auf dem Laufenden halten bei http://home.earthlink.net/~ej4meyer/20151120_Sonnets01.pdf Die politische Lage ist mir so widerlich, dass ich seit dem 8. November keine Nachrichten mehr mir angehört, keine Zeitung weder in der Hand noch im Internet angeschaut habe. Weiß nicht was vor sich geht; bin glücklich von der Wirklichkeit verschont zu sein. Herzliche Grüße an Euch beide. Euer Jochen