Subject: Hüfte und Nantucket From: "Bernd Strangfeld" Date: Sun, 19 Feb 2017 20:01:12 +0100 To: Ernstmeyer Lieber Jochen, seit einer halben Stunde - nein, seit einer Stunde ziehen fast ununterbrochen Kraniche über uns hinweg, manche auch ein bisschen entfernter, es ist großartig und sehr bewegend. Hoffentlich haben sie sich nicht geirrt in ihrem frühlingshaften Optimismus. Sie können nur für ein paar Tage das Wetter erahnen. Ich mache mir immer große Sorgen um sie, hoffe gleichzeitig, dass das unnötig ist. Ein schieres Wunder, dass sie noch immer ihren Weg finden. Danke für Deinen Brief vom 14.2. - da kommt schon wieder ein Zug! Man hört sie nur, es ist dunkel - mit Deinen Überlegungen zu einer Hüftoperation. Sicher ist jede OP ein Risiko - die nächsten Züge, wirklich pausenlos, uns sooo nah! - einige haben sich anscheinend verirrt und kreisen direkt über unserem Haus, es ist neblig und regnet, überhaupt kein Reisewetter, außer man ist ein Frosch oder eine Kröte - und bedarf schon eines beträchtlichen Leidensdrucks, wenn man sich dazu entschließt, und wenn der bei Dir fehlt,um so besser! Also weiterhin Schuhe mit Klettverschluss. Deine Begründung Deines Schreibens finde ich überhaupt nicht verrückt, sie leuchtet mir vielmehr völlig ein, und aus ähnlichen Gründen würde ich schreiben, sollte es mich jemals überkommen.Ich scheue mich allerdings davor, meine Gedanken und Empfindungen aufzuschreiben, selbst vor mir selber möchte ich sie lieber verbergen, jedenfalls in prägnant deutlicher Form. -Immerzu wieder Kraniche! Solche Mengen habe ich noch nie erlebt. Glück auf den Weg! Ich finde ihre Nähe sehr aufregend. Ja, ein langes Leben mit viel erlebnishaftem Inhalt sollte wirklich betrachtet, bedacht, festgehalten werden. Ich bedaure mal wieder, dass Du nicht einfach Deine Lebensgeschichte aufschreibst, in unmittelbarer Form, so wie Du sie in Deinen ersten Briefen dargestellt hast. Du hast so viel erlebt, empfunden, gedacht, das ist nicht nur für Dich interessant.Aber dieses Thema hatten wir ja schon öfter. Dieses leider missglückte Großabenteuer Nantucket scheint Dich doch immer noch mit Schwung, Unternehmungslust und neuen Ideen zu erfüllen, es beflügelt Deine Phantasie weiterhin. Das wenigstens ist ein Licht in diesem düsteren UNterfangen. Ob Du das alles als notwendigen Teil Deiner Lebenserfahrung einschätzt, wage ich zu bezweifeln, aber Du findest sicher eine Möglichkeit, das alles in Dein Weltbild zu integrieren, ohne zu verbittern. Das wünsche ich Dir jedenfalls sehr!!! Ich lese gerade Joseph Roths Roman "Radetzkymarsch", die Donaumonarchie in ihren letzten Zügen , einfühlsam, abschreckend, deprimierend. Kennst Du das Werk? Ich lasse es mir weitgehend vorlesen von einem österreichischen Schauspieler , als Hörbuch, und nähe dabei Knöpfe an von meiner längst verstorbenen Patentante geerbten Kopfkissen. Danach muss ich mich immer erst einmal ablenken. Die nächsten Kraniche! Ich höre jetzt auf. Dir alles Gute, lieber Jochen! Herzlichst Deine Gertraud und Bernd.