Subject: Allergische Beschwerden From: Ernst Meyer Date: Thu, 23 Feb 2017 12:36:17 -0500 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, lieber Bernd, Vielen Dank für Deinen Kranichbrief, wofür Herr Hirsekorn in der Pestalozzischule Dir ganz bestimmt eine Eins gegeben hätte. Ich auch. Hier in Amerika, A+. Solch Einbeziehen des unmittelbar Erlebten ins Gedicht ist Inbegriff der Poesie. Und noch dazu ein Herabbeschwören der himmlischen Heerscharen der Kraniche ins trübe, regnerische, neblige Kierspe! Sind doch Vögel die Urbilder gottgesandter Boten, angeli, Engel also. Dabei sind die vorgestellten Engel der Maler der Renaissance und des Barock so beleibt (wie der Doktor Martin Luther) dass die ihren Schultern entsprießende Fittiche, wie groß auch immer, niemals genügten sie von der Erde abzuheben. Vielleicht auch garnicht nötig. So viel ich weiß vermögen die Penguine am Südpol und die Vögel Strauß in den australischen Dürren auch nicht zu fliegen. Doch wär's mir eben so lieb wenn der Engel Flügel groß und stark genug zum Fliegen wären. Dann würden die Engel vielleicht abziehen, wie die Kraniche, und mich in Ruh lassen. Sobald von Engeln die Rede ist, muss ich an Rilke denken: DIE ERSTE ELEGIE WER, wenn ich schriee, hörte mich denn aus der Engel Ordnungen? und gesetzt selbst, es nähme einer mich plötzlich ans Herz: ich verginge von seinem stärkeren Dasein. Denn das Schöne ist nichts als des Schrecklichen Anfang, den wir noch grade ertragen, und wir bewundern es so, weil es gelassen verschmäht, uns zu zerstören. Ein jeder Engel ist schrecklich. Und so verhalt ich mich denn und verschlucke den Lockruf dunkelen Schluchzens. Ach, wen vermögen wir denn zu brauchen? Engel nicht, Menschen nicht, und die findigen Tiere merken es schon, daß wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt. Es bleibt uns vielleicht irgend ein Baum an dem Abhang, daß wir ihn täglich wiedersähen; es bleibt uns die Straße von gestern und das verzogene Treusein einer Gewohnheit, der es bei uns gefiel, und so blieb sie und ging nicht. Biographie: Selbstverständlich ist Biographie eine Unmöglichkeit. Kein Mensch kann sagen was in einem anderen vorgeht, und wenn er klug wäre würde er's überhaupt nicht versuchen. Autobiographie, das ist so etwa wie sich lebendig den Bauch aufschneiden um mit der Ausstellung des eigenen Gedärms sich berühmt machen oder sich ein wenig Taschengeld verdienen. Hat man nicht nötig, wenn man spart, wie ich es tue, der ich mich begnüge den Winter im ungeheizten Haus mit zwischen 5 und 10 Grad Celsius zu verbringen. Person, persona, heißt Maske; und als Masken unserer selbst wollen wir uns einander bekannt machen. Aber was hinter der Maske wäre, Gott bewahre, wenn das ans Licht käme, müsste die Polizei einschreiten. Let sleeping dogs lie. Besser vielleicht das Schlafende nicht zu wecken. Applied philosophy; angewandte Philosophie, ein Widerspruch schon im Ausdruck, denn sollte nicht Philosophie das reine Denken sein? Die Kritik der reinen Vernunft? Das Leben ist nicht rein; es ist schmutzig, und noch dazu unwirklich. Denn wenn das wirkliche Leben Vorstellung ist, wie Schopenhauer behauptet, dann ist das wirkliche Leben unwirklich, behaupte ich. Du rügst meine Besessenheit mit der Gerichtsbarkeit. Verrückt wie das meiste das mich beschäftigt. Es ist die Nazi-Allergie die ich nicht loszuwerden vermag. Überall begegne ich ihnen; überall entdecke ich sie; und mich gegen sie aufzulehnen, mich gegen sie zu wehren, ist längst - und war vielleicht schon immer, - der eigentliche Inhalt meines Lebens. Ich kann nicht anders. Wenn ich ein so eigensinniger Brief wie dieser mir in die Tastatur fließt, kommt die Frage, ob ich über den Mut (oder die Unverschämtheit) verfüge ihn abzusenden. Tue ich es dennoch, so aus unzerrüttbarer Zuversicht auf Dein Verständnis. Herzliche Grüße an Euch beide. Euer Jochen