Subject: Versäumte Existenz From: Ernst Meyer Date: Sat, 22 Apr 2017 21:30:16 -0400 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, Dank für Deinen Brief. Wieder bitte ich um Entschuldigung für meine umgehende Antwort, die ich zusammenstelle eh die Altersvergesslichkeit wie ein feuchter Schwamm mein Gemüt ein weiteres Mal in eine leere Tafel, in eine tabula rasa, wandelt. Stelle mir vor, wie dankbar Euch Eure Vögel, deren herbes Überwintern Euer Füttern erleichtert oder vielleicht überhaupt ermöglicht. Den unsrigen gegenüber hab ich ein schlechtes Gewissen, weil wir sie seit Jahren nicht gefüttert haben. Dass wir hoch oben im dritten Stock, wo ein Futterkasten uns unpraktisch erschien, unsre Tage verbrachten, reicht kaum zur Entschuldigung. Wenn ich im kommenden Winter noch hier bin, will ich's noch mal erwägen. Meine Gedanken begleiten Euch nach Bielefeld, wohin mein Vater wochentäglich mit der Eisenbahn von Oerlinghausen ins Gymnasium fuhr und wo er 1917 - jetzt vor hundert Jahren - das Abitur machte, nach Liebenburg, wo Dein Vater mich einst sehr milde und wohlwollend prügelte, weil ich mich mit einem Mitschüler schlug, nach Goslar an dessen Straßen ich mich lebhaft erinnere, und natürlich nach Braunschweig wo ich die Welt und die Menschen die sie beleben - oder verteufeln - zum ersten Mal erblickte. Bitte seid vorsichtig und stolpert nicht über die Stolpersteine vor Schleinitzstraße 1, und vor Hildebrand Straße 44, mit denen meine Beziehung zu Deutschland bezeugt und verewigt wird. Indessen verbleibe ich hier, in verzauberter Einsamkeit, in diesem großen leeren Hause. Verbringe meine Tage an der Tastatur des Rechners, und schreibe drauflos, zufrieden und eigentlich auch erleichtert einzusehen, dass was ich schreibe für keinen von Interesse ist, von keinem gelesen wird, und demgemäß keiner Kritik anfällig ist; und keinen Anlass gibt mich zu schämen oder zu entschuldigen. Hab auch eine Sammlung von mehr als vierhundert Photographien von Margaret im Rechner gespeichert, die mich indem ich sie immer und immer wieder anschaue in eine wunderbare Vergangenheit versetzen. Eindrucksvoller noch ist mir die Korrespondenz zwischen Margaret und mir in den zweieinhalb Jahren als wir um einander warben. Bestätigt Hofmannsthals These: Es bleibt ein jeder der er ist. Mein Entidealisieren ist keineswegs erst von gestern. So schrieb ich an meine künftige Braut: "If I thought you were at all interested, I could discourse on my faults at great length, although I cannot condemn them with the rigorous severity with which you speak of your own. I accept them, perhaps far too readily, like a sore on my foot, and I am contented to limp through the streets in plain sight of all people. Concerning them, I can observe only one sin of commission and that is life itself, and one sin of omission, which is not to die, - if one looks at it that way. An unbalanced equation, this pessimism which my father insists on calling nihilism. I cannot escape the idea that every human action involves some quality of sin. But then, what is sin?" Dies, ein Auszug aus einem Brief vom 30. Juni 1949, drei Tage nach meinem 19. Geburtstag, zehn Jahre und sechs Monate nachdem ich mich in der Pestalozzischule von Deinem Vater verabschiedet hatte. Es war der zweite Brief den meine künftige Frau von mir erhielt, reichliche Warnung, sollte ich meinen, dass sie im Begriff war sich mit einem Wahnsinnigen ins Leben zu stürzen. Die jüngste Phase dieses Wahnsinns betrifft mein Nantucket Unternehmen. Das letzte Urteil der Appeals Court besagt meinem Verständnis gemäß, einen Kollaps von Wahrhaftigkeit und Logik, der weitere gerichtliche Verhandlungen sinnlos macht, als ob man in einem Käfig mit vernunftlosen Wesen eingeschlossen wäre. Da ist Intellektualität so wenig am Platz wie in Gesprächen mit bellenden Hunden. Man muss vorsichtig sein, bedenken was sie einem antun können, zugleich aber nicht schüchtern und ängstlich werden. Beim ersten Verhör vor der Klempnerbehörde, das war im Dezember 2008, beschloss dieses Gremium einstimmig eine Strafanzeige (criminal complaint for illegal plumbing) gegen mich einzureichen. Hab' nichts Weiteres gehört. Vermutlich hat der Generalstaatsanwalt den Antrag abgelehnt. Was würde geschehn wenn ich ohne um weitere Erlaubnis zu bitten, das Haus jetzt fertig baute? Möglicherweise garnichts. Die Nantucketbehörden müssten bei der Staatsanwaltschaft, - bei der sie in nicht übermäßig gutem Ruf stehen, ein Strafverfahren gegen mich beantragen. Sollte ich davor Angst haben? Und wäre meine Angstlosigkeit ein Merkmal meiner Senilität? Bin ich anderweitig zu alt, zu taub, zu verkrüppelt zum nächsten Akt in diesem Affentheater? Das weiß ich nicht; vielleicht ist's nur ein unterhaltendes Thema für einen Brief. Aber auch dessen bin ich nicht sicher. Grüß bitte auch Bernd von mir; und Gute Reise nach Braunschweig Euch beiden. Jochen