Subject: am 12. Mai 2017 From: Ernst Meyer Date: Fri, 12 May 2017 17:44:43 -0400 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, Heute kam Dein Brief, und heute seid Ihr unterwegs nach Norwegen. Für den Brief, herzlichen Dank; für die Norwegenreise viele gute Wünsche. Ich antworte umgehend, meines alten Gedächtnisses wegen, das leicht vergisst und das sich die Mühe des Erinnerns ersparen will. Gesundheitlicht geht es mir beunruhigend gut. Sollte ich doch mit meinen 87 Jahren krank und gebrechlich sein. Das Gehen ist langsam, und der Sicherheit halber, meist am Stock; die Schmerzen in den Hüftgelenken sind, wahrscheinlich infolge höherer Dosen Nicht- steroidaler Entzündungshemmer (NSAID) fast völlig beschwichtigt. Meine Taubheit ist belanglos, denn ich lebe ein vereinsamtes Leben. "Keiner mag ihn hören, keiner sieht ihn an, und die Hunde knurren um den alten Mann." Aber in meinem Falle, nicht einmal Hunde. Klemens erscheint etwa drei Mal wöchentlich, abends für drei viertel Stunden, nicht um sich zu unterhalten, sondern mit seiner Geige, um zu üben. Mein Enkel Nathaniel vielleicht einmal in der Woche für ein paar Minuten, um die Beziehung aufrecht zu erhalten. Sonst ist es still. Mir viel angenehmer als mich unter Menschen zu befinden die sich an mir ärgern, und sich in den verschiedensten Methoden ergehen mich zu kritisieren oder zu kränken, und sich dann doppelt ärgern wegen meines dicken Fells. Ich erlebe die Einsamkeit als einen großen Segen; schreibe fast ununterbrochen und unterhalte mich im Geiste mit Margaret als dem einzigen Menschen der mich je bedingungslos geliebt hat. Ergötze mich an den vielen Photographien von ihr, und überlese die Werbungskorrespondenz zwischen uns bis ich sie fast auswendig weiß. Nach Konnarock zu fahren habe ich keine Pläne. Dass das Haus dort unversehrt ist, versichern mich regelmäßige Telephongespräche mit Jeane Walls, und die Fernsehüberwachungsbilder welche zwei Mal täglich automatisch in meinen Netzspeicher abgelegt werden. Wegen einer Reise bin ich besorgt, erstens dass ich bei der weiten Autofahrt unversehens einschlafen möchte, und dass ich im Falle plötzlicher Unzurechnungsfähigkeit, die mit dem Alter unvermeidlich zunehmend wahrscheinlicher wird, den Ärzten ausgeliefert und ihr Opfer würde. Hier in Belmont kann ich mich in meinem großen Haus verstecken und in irgendeiner Ecke liegen und träumend verdursten. Das sollte nicht länger als zehn Tage dauern. Meine Tage verbringe ich von morgens bis abends, soweit ich mich nicht mit Margaret unterhalte, mit schreiben. Meine verschiedenen Korrespondenten, meine Kusine Marion, meiner verstorbenen Schwester Freundin Margret Steinrück in Berlin, meines Nachbarn Vater, Niels Holger Nielsen in Heidelberg, der Oerlinghausener Historiker Jürgen Hartmann, und schon erloschen, Dr. Reinhold Busch, Hagener Biograph der Familie Rosenthal meiner Großmutter väterlicherseits, und nicht zuletzt, Du, liebe Gertraud, hab ich längst mit viel zu vielen Worten überschwemmt. Sie wehren mich ab mit höflichem, liebenswürdigem Schweigen. Meine gegenwärtige literarische Beschäftigung ist der achte Band meiner Romanreihe, wo ich von den Schickanen der Inselbehörden, von der Verlogenheit des Klempneramts, von der Befangenheit der Richter erzähle. Meine geliebte deutsche Sprache schützt mich vor ihrer Rache, denn was ich schreibe kann keiner lesen, geschweige denn verstehen. Seit etwa einem Monat weigert sich die Telephongesellschaft die Leitung zu reparieren. Falls Du mit mir sprechen möchtest und Dein Anruf an 617-489-1043 mit einem Besetztsignal beantwortet wird, heißt das dass es geregnet hat und die uralten mit Papier isolierten Kabel nass sind. Dann magst Du mein Radiotelephon (Handy) 617-548-5768 versuchen. Am zuverlässigsten ist immer noch das Internet. Ich könnte dann ein Telephonat von hier einleiten. Und nun zum Schluss, eh ich in die Fantasiegefilde meines Gemüts zurückkehre, herzliche Grüße an Bernd und an Dich selber. Dein Jochen