Subject: am 17. Juni 2017 From: Ernst Meyer Date: Sat, 17 Jun 2017 14:24:17 -0400 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, Heute Morgen, im Halbschlaf, die Zeit wo gewöhnlich mein Wahnsinn ungezügelt grassiert, erinnerte ich Deinen jüngsten Brief, wofür ich Euch wie stets sehr dankbar bin, und als Begleitung hörte ich im inwendigen Ohr das protypische Enttäuschungslied des Zuhausegelassenen, ein Lieblingslied meiner Mutter, Schubert D 932 Der Kreuzzug Text: Karl Gottfried von Leitner (1800-1890) Ein Münich steht in seiner Zell' Am Fenstergitter grau, Viel Rittersleut in Waffen hell, Die reiten durch die Au. Sie singen Lieder frommer Art In schönem, ernsten Chor, Inmitten fliegt, von Seide zart, Die Kreuzesfahn' empor. Sie steigen an dem Seegestad Das hohe Schiff hinan. Es läuft hinweg auf grünem Pfad, Ist bald nur wie ein Schwan. Der Münich steht am Fenster noch, Schaut ihnen nach hinaus: "Ich bin, wie ihr, ein Pilger doch, Und bleib ich gleich zu Haus. Des Lebens Fahrt durch Wellentrug Und heißen Wüstensand, Es ist ja auch ein Kreuzeszug In das gelobte Land." Dann, als ich aufgestanden war, das Bett zusammengezogen, und den Rechner angeschaltet hatte, ließ ich mir das anspruchslose - oder wäre es im Gegenteil ein sehr anspruchsvolles - Lied übers Internet drei Mal von Fischer-Dieskau, mit Gerald Moores Begleitung, vorsingen; und es erklang dann von außen kaum anders als ich es kurz zuvor von innen vernommen hatte. Um Deinem entrüsteten Protest, Du verweigertest das Reisen unter einer Kreuzesfahn' von wie immer zarter Seide, vorzubeugen, erlaube mit die Betrachtung dass es sich im einen Falle wie im anderen, um keine weitere Wirklichkeit handelt als die Phantasie des Mönches dem das Leben nur in Aussicht auf ein gelobtes Land erträglich ist. Vermutlich wirst Du dieses Gleichnis über den zurückgelassenen und in Trennungsangst verfallenen Mönch nicht weniger melancholisch einschätzen als meinen Brief vom 15. Mai. Der Begriff Melancholie spielt in meinem langen Leben eine bemerkenswerte Rolle. Als wir uns kennen lernten, meinte Margaret die Seele sei eine Art Schaltbrett von wo die Gedanken und Stimmungen willentlich quasi an-, ab- und umgeschaltet werden könnten. Melancholie schien ihr als eine Art vermeidbare Sünde. Das Leben hat uns dann gelehrt dass Gedanken und Stimmungen so wenig absichtlich sind wie das Wetter dem wir uns im Frühling mit Regenschirm, im Sommer mit Badeanzug, im Herbst mit Windjacke und im Winter mit Wollmantel anpassen. Was die Familie anbelangt, so meine ich die Beziehung zu Klemens, zu Laura und zu den vier Enkelkindern ist Ausdruck nur meiner eigenen Gefühle: es sollte mir lediglich auf die Gelegenheit sie zu lieben ankommen, und diese Gelegenheit ist unverbrüchlich. Margaret hat mich ihr Leben lang mit Liebe so sehr verwöhnt, dass ich mehr Liebe als mir gebührte genossen habe, und kann mich nun was Klemens anbelangt dem Vorschlag Hofmannsthals im Rosenkavalier fügen: "Hab mirs gelobt, ihn liebzuhaben in der richtigen Weis, daß ich selbst seine Lieb zu einer andern noch liebhab ..." Die Einsamkeit, wie ich Dir im letzten Briefe schrieb, erlebe ich als einen Segen. Es besteht keine Gefahr, dass Einsamkeit durch Dichtung, geschweige denn durch Veröffentlichung, aufgehoben werden sollte; wenn irgend wird sie durch das unvermeidliche Missverständnis nur vertieft. In dieser Perspektive scheint der Sinn und Zweck meines Schreibens mir eine eigene Geisteswelt zu beschaffen die meiner Sehnsucht genügt, in der ich zuhause - und einsam bin. Dir und Bernd hingegen wünsche ich nicht nur einen gesunden, zufriedenen Sommer, sondern darüber hinaus, viele freudebringende Jahreszeiten. Jochen P.S. Die Telephongesellschaft fährt fort die Reparatur von 617-489-1043 zu verweigern, und der Patient der mit mir sprechen möchte, erhält nichts als das elektrische "Besetzt" Signal. Welch eleganter Abschluss einer fünfzig Jahre währenden medizinischen Praxis! Mich telephonisch erreichen, falls Du bedürftest, vermöchtest Du mit 617-548-5768