Subject: Mönch in der Zelle From: "Bernd Strangfeld" Date: Thu, 22 Jun 2017 17:06:16 +0200 To: Ernstmeyer Lieber Jochen, es ist so heiß, dass man sich in Afrika wähnt, oder vielleicht in Kalifornien. Das Thermometer zeigt eben 33°, das ist allerhöchst ungewöhnlich. Wie ist es denn bei Euch? Heute morgen habe ich dem Nachbarn beim Jäten geholfen, bis mich die Angst vor einem Sonnenschaden ins Haus trieb. Im Nistkasten an der Terrasse wohnt eine Kohlmeisenfamilie, hoffentlich überstehen die Kleinen die Hitze. Den Teich haben wir aufgefüllt (beim Nachbarn ist er völlig ausgetrocknet), den Garten eifrig gegossen, damit die Pracht nicht verloren geht. Nur der unglaublich üppige Natterkopf (Echium vulgare) zwischen den Fugen wirkt gänzlch unerschüttert, und einige Bienen danken es ihm. Jeden Morgen öffnen sich einige Mohnblüten; heute die ersten himmelblauen Wegwarten. Immer ist Neues zu sehen. Es widerstrebt mir heftig, dass wir in 4 Tagen abfahren, zunächst bis Freiburg und am nächsten Morgen bis St.-Pierre. Aber erfahrungsgemäß vergeht die Kümmernis, wenn wir erst einmal im Auto sitzen, alles eingepackt haben und nach vorn gucken. Doch in unserer französischen Gegend ist es zur Zeit noch mindestens genauso heiß wie hier. Mal sehen, wie wir das überstehen. Vor einer Woche haben wir unserer Kiersper Freundin Helge, früher Bibliothekarin an der Schul-und Stadtbibliothek, zum 91.Geburtstag gratuliert.Ihr langes Leben war schwierig, unruhig, voller Missgeschicke, auch Glücksmomente, und gibt immer wieder Anlass zu langen Erzählungen. Inzwischen streiken die Knie erheblich, sie müht sich die 32 Stufen zu ihrer Wohnung hinauf und hinunter, hat es aber in diesem Jahr schon mehrmals bis zu unserer Gartenbank geschafft. Wir sind fast die einzigen, mit denen sie noch gelegentlich spricht, und die Rückblicke auf ihr Leben sind bewegend, manchmal zornauslösend, manchmal versöhnlich. Sie ist nun auch ein "Mönch", doch hadert sie nicht damit. Ich vergleiche manchmal Euch beide. Du schreibst, sie liest, allerdings mittlerweile fast nur noch Zeitung (ZEIT und Spiegel), denn alles geht langsamer, fällt schwerer und schwerer, aber sie möchte doch noch wissen, was in der Welt so los ist. Nicht, dass das erfreulich wäre. Das kann Dich nicht wirklich interessieren, lieber Jochen, aber Ihr seid mir eben beide nah, und da denke ich manchmal um Euch herum. Bernd übt im Keller am Kontrabass, heute abend ist Generalprobe. Überall stehen Kartons und liegen Dinge, die mit nach Frankreich sollen, Geschenke, Schraubgläser und Gelierzucker für Kirsch-und Aprikosenmarmelade, Bestimmungs-und andere Bücher, CDs... Und vor lauter Hitze und Reisevorbereitungen fällt mir so garnichts Gescheites ein, weshalb ich schließe. Gestern war Sommeranfang, der längste Tag des Jahres, schon gehts wieder bergab, wenn auch sachte. An Deinem Geburtstag kommen wir in St.-Pierre an, da werden wir an Dich denken, aber sicher nicht schreiben, denn der Welananschluss dort ist ein wenig abenteuerlich. Juni, der Rosenmonat! Kennst Du eigentlich "Dreizehnlinden" von Friedrich Wilhelm Weber (1813-1894)? Der Anfang des 5.Kapitels wurde oft in unserer Familie zitiert: Lieblich sind die Juninächte, /Wenn des Abendrots Verglimmen/ Und des Morgens frühe Lichter/ Dämmernd ineinander schwimmen... Ich habe immer "und Auroras frühe Lichter" im Sinn. Es geht noch schön und sehr stimmungsvoll weiter. So. Es scheint, das verheißene Gewitter samt möglichem Regen ist wieder ergebnislos an und vorbeigezogen. Habe einen guten, gedankenreichen Sommer! Herzlich grüßen Deine Gertraud und Bernd.