Subject: am 26. Juli 2017 From: Ernst Meyer Date: Wed, 26 Jul 2017 22:45:38 -0400 To: Bernd Strangfeld Lieber Gertraud, lieber Bernd, Dank für Euern Postkartenbrief aus Frankreich, den ich wegen meiner vielmals zuvor erwähnten Altersgedächtnisschwäche umgehend beantworte. Ich bewundere den Mut und die Zähigkeit mit welcher Ihr Euch, - so scheint es mir -, in die vielen unbekannten Landschaften und an die entsprechend kaum voraussehbaren Freundschaften wagt. Da bin ich, im Vergleich mit Euch, ein Feigling, der es vorzieht im Schutz des vertrauten Schreibtisches seine Hirngespinste sich ungezügelt zu entspinnen. Von Woche zu Woche meine ich einzusehen, wie mein Verhalten zu den Worten, zur Sprache, zu meinem Schreiben sich verwandelt. Früher schrieb ich in Anbetracht auf mögliche, wenn auch abwesende Leser. Heute schreibe ich, abgesehen von Briefen wie diesen, nur für mich. Jede weitere Seite des Romans, jede neue Strophe des Gedichts ist eine kleine Forschungs- und Entdeckungsreise in eine Innenwelt die lediglich von eigener Bedeutung, von eigenem Interesse ist. Mit diesen Spielereien verbringe ich die wenigen mir noch übrigbleibenden Tage. Dabei erscheint mir dass der ehrliche Brief, - ich meine der Brief der an einen nicht nur eingebildeten Leser gerichtet ist, - die gültigste - und vielleicht die einzig gültige Art des Schreibens sein möchte. Alles andere ist Selbstgespräch und somit, im eigentlichen Sinne, "idiotisch". Ich habe in den vergangenen Wochen viele Stunden mit dem Lesen des Briefwechsels zwischen Margaret und mir aus den Jahren 1949, 1950 und 1951 vertan, als wir um einander warben und einander kennen lernten. Es ist erstaunlich, wie viel Bedeutendes, wie viel Neues ich über Margaret und mich auch heute noch aus diesen Schriften zu erleben und erfahren vermag. Dies im Vergleich mit dem Befremden ausgelöst durch veraltete Photographien von Menschen die wir längst nicht mehr sind. An dem geschrieben Wort hingegen haftet ein Zauber der seinen Sinn ewig neu vergegenwärtigt. Vom 6. bis zum 12. des Monats war ich krank an einem Speiseröhren- Magen-Darm Katarhh, schwerer krank als ich je erinnere gewesen zu sein, auch nicht in der jetzt so fernen Kindheit. Sechs Tage lang war's mir unmöglich weder Flüssigkeiten noch feste Nahrung zu schlucken, und ich meinte mir die uralte Frage stellen zu müssen, "Wer weiß wie nahe mir mein Ende?" Aber dann, so plötzlich wie ich krank geworden war, wurde ich gesund, so gesund dass ich sogar meinte eine Solo-Autofahrt nach Konnarock in Erwägung ziehen zu können. Sehe aber vorläufig von diesem Abenteuer ab, aus Bedenken dass ich im Falle von Unpässlichkeit, welcher Art auch immer, Entführung von der Ärztebande ausgeliefert wäre, indessen ich mich hier in diesem schönen großen alten Hause so zu verstecken weiß dass mich keiner fände bis es zu spät wäre mich zu "retten". Mit diesem erbaulichen Gedanken grüße ich Euch beide recht herzlich, wünsche Euch eine weiterhin ersprießliche Ferienreise, und wende mich aufs Neue meinen Geheimschreibereien zu. Euer Jochen