Subject: am 26. August 2017 From: Ernst Meyer Date: Sat, 26 Aug 2017 13:03:21 -0400 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, Eh das Verstreichen noch weiterer Tage das abnehmend schwache Gedächtnis und die von ihm vorgeschriebene Pflichterfüllung gefährden, soll Dein liebenswürdiger Brief die gebührende Antwort bekommen. Ich bin immer wieder beeindruckt von Euerm Reisemut und Eurer Freundschaftsfähigkeit; ich bewundere, - und ehrlich gesagt - beneide, Deine Leidenschaft für die vielen Pflanzen und Tiere, deren Namen Du so sorgfältig pflegst als wärst Du Adams Privatsekretärin - Du besinnst Dich - oder täuscht mich mein Gedächtnis, - dass es zwar der Herrgott war, der sie alle schuf, dass es aber Adams Aufgabe war die vielen Geschöpfe mit Namen zu belegen. Und ich, dessen Leben aus Quaselei besteht, bin zu träge, zu faul, oder noch schlimmer zu gleichgültig diese Namen auswendig zu lernen. Den Versuch es Dir nachzumachen habe ich längst aufgegeben. Wäre sie nicht vor acht Jahren gestorben, würde meine Schwester Margrit heute ihren 89. Geburtstag feiern, eine Betrachtung die mich zu der Frage bewegt, in welchem Alter man anfangen sollte seinen Geburtstag zu beklagen statt ihn zu feiern. In sieben Wochen werden zwei Jahre vergangen sein, seit Margaret starb. Heute lebe ich äußerlich nicht weniger als innerlich, fast wie der Einsiedler von dem man Märchen erzählt. Klemens, Laura und Nathaniel leben getrennt im Nachbarhause. Klemens besucht mich etwa drei Mal in jeder Woche für eine knappe Stunde, aber auch dann haben wir uns wenig zu sagen, wenn nur weil ich zu taub bin seine Worte zu verstehen, und weil was ich zu sagen habe ihm im Grunde gleichgültig ist, wo es ihn nicht verstimmt. Er lebt in einer anderen, in seiner eigenen einsamen Welt. Nathaniel erscheint zu einem kurzen Besuch ungefähr alle zwei Wochen, und Laura überhaupt nicht. Liebe Gertraud, Du verstehst mich ganz falsch, wenn Du meinen Bericht als Klage liest. Er ist ein Danklied, Dank für das Alleinsein, Dank nicht wie andre Gleichaltrige, in einem Altersheim vermodern zu müssen, Dank vor dem Schutz vor Missverständnissen und Vorwürfen. Dank nicht zur vorgeschriebenen Zeit am Esszimmertisch erscheinen zu müssen, Dank vom Fernsehen, von Zeitungen und von allen politischen Gesprächen verschont zu sein. So hatte ich mir als ganz junger Mensch ein einsames Leben vorgestellt. Dann kam die 63 Jahre lange gnadenreiche Ehe die mich von mir selbst erlöste. Nun steh ich an einem Ende vergleichbar mit dem Anfang, und blicke mit Dankbarkeit auf das fast abgeschlossene Leben zurück, dankbar nicht zuletzt, dass es hinter mir liegt. Von Zeit zu Zeit beschäftige ich mich mit Fragen betreffs des Wahnsinns, der bekanntlich im Alter als "Senilität" auftritt, der aber einen jeden von uns in eigener Weise in den verschiedensten Stadien des Lebens befallen mag. Frage mich ob der Inhalt und Stil dieses Briefes nicht vielleicht auch als Wahnsinnserscheinung zu deuten wäre. Ich weiß es nicht. Der Begriff Wahnsinn hat für mich zunehmenden heuristischen Wert. Er bietet die einzig vernünftige Erklärung für so manches, für so vieles, für das meiste, - ich wage kaum es zu schreiben, für alles was ich erlebe. Inmitten der wahnsinnigen Barbarität der Regierungen, von den Nazis bis auf heute, das wahnsinnige Glück meiner Ehe. Aber nicht nur Vergangenheit, Geschichte und Mythos dünken mich wahnsinnig, das lebendige, gegenwärtige Denken und Fühlen scheint mir als wahnsinnig. Wenn Du's bestreitest, bitte zeig mir wo ich die Grenze zwischen Gegenwart und Vergangenheit fände; und betreffs meiner Erinnerung, meiner Vorstellung von Vergangenheit, wie unterscheide ich Dichtung von Wahrheit, Mythos von "wissenschaftlicher" Geschichte? Aber ich gebe es zu, vielleicht ist schon das Fragen danach ein schlüssiges Zeichen des Wahnsinns. Es ist 12 Uhr 37, und ich will mich endlich in die Küche zum Frühstück begeben. Die Ärzte wissen das Blutzuckererniedrigung Geistesstörungen verursacht. Vielleicht werden eine Tasse Kaffee und ein Butterbrot mich heilen. Herzliche Grüße auch an Bernd. Jochen