Subject: am 13.November 2017 From: Ernst Meyer Date: Mon, 13 Nov 2017 16:52:20 -0500 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, lieber Bernd, über Gertrauds Brief der mir zu einem vielleicht kritischen Augenblick die graue Eintönigkeit des kalten November erhellte und ein bisschen erwärmte, hab ich mich besonders gefreut. Wegen der von Dr. Busch zurückgesandten Bilder folgendes: Alle Bilder und Briefe die Ihr uns im Laufe der Jahre habt zukommen lassen sind aufbewahrt, aber ohne systematisches Sortieren und Ablegen, so dass ich von Zeit zu Zeit in den verschiedensten Kästchen, Schubladen und Umschlägen unerwartete Erinnerungen an Euch entdeckte, Erinnerungen die mir die Vergangenheit in der ich einst lebte etwas näher bringen. Über solche Andenken doppelt zu verfügen wäre keineswegs Belastung. Jedoch seid bitte bedacht Euch unliebsame Mühen zu ersparen. Bilder die Ihr schicktet empfinge ich gern, aber Nicht-empfangenes würde ich kaum entbehren, denn mein Gemüt ist mit sehnsuchtschürenden Vorstellungen reichlich versorgt. Von Dr. Busch empfing ich gestern den Hinweis auf ein im Internet verfügbares Erinnerungsbuch der Stadt Oerlinghausen an die Opfer des Nationalsozialismus: http://www.oerlinghausen.de/de-wAssets/docs/unsere-stadt/soziales-gesellschaft/Erinnerungsbuch_NS-Opfer_Oerlinghausen_zweite_Ausgabe.pdf Es ist das ergreifende Dokument des Gewissens eines mir bekannten Privathistorikers, Jürgen Hartmann, mit dem ich seit Jahren e-mail austausche. Auch die Arbeit von Dr. Busch ist Ausdruck seiner Sorge um die Opfer des Nationalsozialmus. Dass ich mich selber nie als ein solches Opfer betrachtete, und dass ich mich stets schämte als ein solches betrachtet zu werden, habe ich Euch gegenüber jedenfalls oft genug betont. Am 29. April schrieb mir Dr. Busch: Sehr geehrter Herr Kollege Meyer, erst einmal recht herzlichen Dank für Ihren Brief und die in ihnen enthaltenen Informationen. Insbesondere danke ich Ihnen für die Erlaubnis, Ihre Unterlagen für eine Buchveröffentlichung verwenden zu dürfen. Sie können ein Mittelpunkt des geplanten Werkes werden. Da es sich bei Ihrem Vater um einen aus Nazideutschland vertriebenen Kollegen handelte, kann ich anhand der vorhandenen Literatur exemplarisch die Drangsalierung jüdischer Ärzte bis zur Auswanderung aufzeigen. Ich habe das bereits in meinem Buch "Das Schicksal jüdischer Familien aus Hagen" anhand der Unterlagen zu dem Kinderarzt Dr. Julius Stargardter getan. In diesem Buch kommen auch 70 Seiten zur Familie Rosenthal vor, denn Lore Rosenthal hatte auch Medizin studiert, durfte dann aber nicht einmal ihre Medizinalpraktikantenzeit antreten und wanderte nach Palästina aus. Ihre beiden Töchter Daniela und Edna habe ich im letzten Jahr in Haifa besucht. Danke auch für die Adresse von Marion Namenwirth. Erst einmal sammle ich die Adressen möglichst aller Nachkommen, denn ich weiß bis jetzt nicht einmal, welchen Umfang das Buch haben wird. Immerhin handelt es sich um 19 Söhne und Töchter von Jakob und Isaak Rosenthal; die Zahl von ihren Nachkommen könnte die Hundert übersteigen. Wenn Sie Interesse haben, will ich Ihnen gern die e-mail-Adressen derjenigen zukommen lassen, die ich bereits kenne. Die Auswahl von Fotos und Dokumenten: Da es sich um die Biografien der Schicksale der Nachkommen von Jakob und Isaak R. handeln soll, sind natürlich Fotos und Dokumente das Salz in der Suppe! Am besten Porträts der einzelnen Familienmitglieder, Gruppenfotos, Fotos der Wohnsitze, Dokumente wie Promotionsurkunden (aber keine Standesamtsurkunden, das würden hunderte ...). Wichtig sind vor allem Lebensläufe, die nicht zu trocken ausfallen sollten. Da haben Sie selbst ja bereits schöne berichte niedergeschrieben. Mit freundlichen, kollegialen Grüßen Reinhold Busch Am 30. April: Ich finde es toll, daß Sie mir bei meinem Vorhaben helfen wollen. Daß Ihr Bericht im Mittelpunkt stehen wird, ist auch der Tatsache geschuldet, daß das Material so reichlich ist. Ich weiß ja nicht, was noch alles auf mich zukommt. Am 2. Mai: "Sie erfreuen mich mit den Geschichten aus Ihrer Familie. Ich muß nur aufpassen, daß es nicht zu viele werden, damit zuletzt nicht die Geschichte der Rosenthal-Familie, sondern die von Heinz Meyer dominiert." Als ich ihm vor drei Monaten eine Abschrift von Benjamin Zanders (heuchlerischem) Encomium für Nathaniel übersandte, antwortete mir Dr. Busch: Am 15. August "Sehr geehrter Herr Kollege Meyer, besten Dank für Ihre e-mail, aber ich konnte damit leider nichts anfangen, weil ich die Betreffenden nicht kenne ..." Scheinbar ist es mir schließlich nun doch gelungen bei Dr. Busch ein wenig Reklame für Nathaniel anzustiften. So gut ich's konnte, habe ich Dr. Busch geholfen, bin dennoch überzeugt das es unmöglich ist die "Biografien der Schicksale" von mehr als hundert Menschen die nichts als gemeinsame Abstammung mit einander verbindet, in hundert Bänden, geschweige denn in einem Einzigen darzulegen. Dass die Berichte die Dr. Busch zu liefern fähig ist mit den "wirklichen" Menschen nichts mehr als den Namen gemeinsam haben kann, scheint mir unverkennbar, bin dennoch sehr an seinem Erzeugnis interessiert - vielleicht nur aus Eitelkeit, - denn wo sonst stehen meine Berichte, wie er schreibt, "im Mittelpunkt." Hingegen bilde ich mir ein, dass mein Interesse der nur vermeintlich "wahrhaftsgetreuen" Geschichte einer tatsächlich unbegreifbaren und unerreichbaren Vergangenheit gilt. Mein eigenes Interesse an der Vergangenheit zielt auf die vielen Briefe die wir im Lauf der vielen Jahre gesammelt haben, darin ich von Tag zu Tag mit Hingabe lese, nicht weil es möglich wäre die Toten ins Leben zurück zu bestellen, sondern weil nur das verständige und gefühlvolle Lesen es ermöglicht ein gegenwärtiges Abbild des nicht mehr Seienden zu gestalten, wie gültig oder ungültig, wie "wahrheitsgetreu" möchte daahingestellt beleiben, wenn Begriffe wie diese überhaupt anwendbar sind. Ich habe bis jetzt eine Zusammenstellung im Rechner als Verteiler (Server) mit über tausend Dokumenten eingerichtet, deren Textlaut oder Abbildung nach Belieben auf dem Bildschirm erscheint. Die Sammlung beginnt mit Briefen an meinen Urgroßvater, den oerlinghausener Pferde- und Viehhändler Isaak Meyer, erstreckt über die Liebesbriefe meines Vaters an meine künftige Mutter, über den Briefwechsel zwischen meinen Eltern während ihrer Trennung 1938-1939, über die Korrespondenz zwischen meinen Eltern, meiner Schwester und mir während unserer Studien, die Nachkriegskorrespondenz meiner Eltern mit ihren Verwandten und Bekannten in Deutschland, die Liebesbriefe zwischen Margaret und mir 1949 bis 1952, als wir umeinander rangen und warben, danach die vielen eigenen schriftlichen Erzeugnisse von fragwürdigem Wert, einbeschlossen die umfangreichen gerichtlichen Eingaben, - all das zu lesen, zu begreifen, zu ordnen, zusammenzustellen, lässt kaum Zeit zu weiteren schriftlichen Bemühungen obgleich es mir unmöglich ist von dem Versuch abzulassen. Ich darf nicht leugnen dass die Verzweiflung um das national-sozialistischeDeutschland fast alles das ich geschrieben habe beherrscht. Neuerdings dievermeintliche Einsicht, dass die klassische Ethik welche den Einzelnen für sein Tun und Lassen verantwortlich macht ungeeignet ist jene katastrophale zerstörerische Wut zu erklären. Ich meine einzusehen dass es sich nicht um das Betragen einzelner Menschen handelt, sondern um das Wüten einer Menschenherde, dass sich so wenig mit der christlichen Liebesforderung oder dem kategorischen Imperativ vereinbaren lässt, wie das Schwärmen von Schmetterlingen, Bienen, oder Staren mit der Gemütsverfassung des einzelnen Insekten oder Vogels. Wenn ich sechzig Jahre jünger wäre würde ich versuchen Soziologie zu lernen. Das aber kann ich nun nicht mehr, und irgendwann muss ich versuchen mich auf das absehbare Ende vorzubereiten. Ihr fragt nach dem Haus auf Nantucket. Hitler hat zwölf Jahre bedurft um Deutschland zu zerstören. Die Nantucket Behörden aber benötigten 13 Jahre zur nur symbolisch bedeutsamen, praktisch aber belanglosen Zerstörung meiner armseligen Klempneranlage. Diese Zerstörung ist nun erfolgt. Die Anlage ist von einem approbierten Klempner abgerissen worden und neu eingebaut. Die Kosten: $18000.- um manches geringer als ich erwartet hatte. Klemens und ich planen am kommenden Wochenende, (18-19 November) auf die Insel zu fahren um die endliche Fertigstellung des Hauses zu planen. Ich frage mich, ob es unsinnig, geschmacklos oder gar obszön von mir ist über diese praktisch unwesentliche Unregelmäßigkeit der Behörden die Fahne des kategorischen Imperativ zu hissen, und einen soziologischen Versuch anzustellen, wie sich das oberste Staatsgericht, the Supreme Judicial Court of Massachusetts, zu unverkennbaren Lügen auf Seiten der Stadt Nantucket und der obersten Staatsanwaltschaft verhält. Das Ergebnis dieses Experiments ist die Tatsache dass die Gerichte das Verfahren grundsätzlich an die befangenen Nantucket und Staatsanwalts- behörden immer und immer wieder, dreizehn Jahre lang zurück wiesen, mit der vorauszusehenden Folge, dass der Berufung einlegende Kläger - in diesem Falle ich selber- von hohen Anwaltskosten enttäuscht und zermürbt, wiederholte Revisionsanträge aufgeben würde; aber ohne mit meiner verschrobenen Person zu rechnen, der das Prozessieren intellektuellen Spaß machte; und der der Beweis dass der Rechtsstaat (constitutional goverment) ein lächerlicher Witz ist, der unter Umständen, wie in Nazi Deutschland, Folgen von entsetzlicher Tragik nach sich zu ziehen vermag, dass dieser Beweis mit der willkürlichen Zerstörung einer erstklassigen Klempneranlage aus verlogenen vortäuschten Gründen preiswert erstanden wurde. Liebevolle Grüße an Euch beide. Jochen