Subject: am 26. Januar 2018 From: Ernst Meyer Date: Sun, 28 Jan 2018 13:20:50 -0500 To: Bernd Strangfeld Liebe Gertraud, Dein Brief hat mir umso mehr Freude gemacht als ich ihn mit schlechtem Gewissen empfing, und mit der Besorgnis, dass er vielleicht überhaupt nie eintreffen würde, weil die Lehrerin nicht weiterhin geneigt war sich bei dem Widerreden des aufsätzigen Schülers aufzuhalten. Dank also für Deine Nachsicht und Geduld. Am 2.Januar, schließlich, ist Nathaniel in das Schlafzimmer im Erdgeschoss des Anbaus eingezogen, so dass ich zum ersten Mal seit Margarets Tod nicht mehr allein in diesem übergroßen Gebäude hause. In der Folge jedoch mit nur geringem Unterschied,denn wie die Bewohner jedes anderen gesitteten Fremdenheims begegnen wir einander mit ausgesuchter Höflichkeit, aber wenig mehr. In den vier kurzen Wochen die seit seiner Ankunft vergangen sind, haben wir genau eine gemeinsame Mahlzeit genossen. Das ist nur sachliche Feststellung, keineswegs eine Klage, denn in den vergangenen zwei Jahren bin ich mit der Einsamkeit vor der ich mich als junger Mensch in erbärmlicher Weise ängstigte, so inniglich vertraut geworden, dass es mir nunmehr unmöglich ist sie zu entlassen. Das hohe Alter hat mich, nicht dass ich jemals den Versuch gemacht hätte ihm zu entfliehen, eingeholt, von selbst und ohne mein Mühen. Wahrscheinlich wiederhole ich mich mit dem Zitat von Hölderlin: Am Abendhimmel blühet ein Frühling auf; Unzählig blühn die Rosen und ruhig scheint Die goldne Welt; o dorthin nehmt mich Purpurne Wolken! und möge droben In Licht und Luft zerrinnen mir Lieb' und Leid! – Doch, wie verscheucht von törichter Bitte, flieht Der Zauber; dunkel wird's und einsam Unter dem Himmel, wie immer, bin ich – Komm du nun, sanfter Schlummer! zu viel begehrt Das Herz; doch endlich, Jugend! verglühst du ja, Du ruhelose, träumerische! Friedlich und heiter ist dann das Alter. Von Zeit zu Zeit überrascht mich Dankbarkeit, wie friedlich und heiter sich tatsächlich auch mein eigenes Alter ergeben hat. Ich staune über die Empfindsamkeit des Dichters der in noch jungen Jahren diese Weisheit auszusagen vermochte. Er hat recht! Der Arzt diagnostiziert senile Euphorie, eine Krankheitserscheinung außergewöhlich, insofern die den Befallenen beglückt statt ihn zu quälen. An diesem Höhepunkt der diesmal wahrheitsgetreuen Rhetorik, erlaube mir zu schließen mit den zugegeben etwas verspäteten Wünschen zu einem gesundenen und zufriedenen Neuen Jahr, Euch beiden. Jochen