In Konnarock Meine Mutter hatte einen lebhaften Sinn für das Dramatische. "Fräulein, sie sollten and Theater gehen," war der Rat schmunzelnder Mitarbeiter in der Bank. Besonders Familienereignisse pflegte sie zu dramatisieren. Ein bündiger Ausdruck meines eigenen Wesens war ihr eine kleine Geschichte die sie mir im Lauf meines Lebens immer wieder wiederholte. Im Sommer 1931, als ich ein Jahr alt und meine Schwester 3 Jahre alt war, machten meine Eltern eine Deutschlandreise ins Tauber- und ins Rheintal, Vorgängerin der schicksalhaften Reise 1938 mit dem tödlichen Unfall auf der Autobahn bei Gießen. Mein Großvater väterlicherseits war gestorben. Seine Frau Elfriede war in Braunschweig und betreute ihre kleinen Enkel. Bei meiner Eltern Rückkehr entsponn sich folgendes: "Marga, ich bin ja so froh dass ihr wieder zurück seid." "Ja was ist denn los, ist etwas geschehen?" "Ich kann nicht, ich kann nicht mehr, ich bin vollkommen erschöpft. Das Mädchen war ja ein gutes Kind, war großartig und hat mir keine Schwierigkeiten gemacht. Aber der Junge, der Junge hat ununterbrochen geschrieen, morgens und abends, Tag und Nacht. Ich konnte es nicht mehr aushalten. Ich kann es nicht mehr aushalten. Gott sei Dank, dass ihr wieder hier seid." Ich hab, wie wir als Kinder in Braunschweig sagten, eine lange Leitung. Jahre sind verstrichen in denen ich diese kleine Dramatisierung immer wieder zur Kenntnis nahm, ohne weiter drüber nachzudenken. Erst nach meiner Mutter Tod, und Jahre nachdem die Trennungsangst durch die eigne glückliche Ehe endgültig verbannt war, stellte ich mir die Frage warum ich nicht auch in den Armen meiner Großmutter wie in den Armen aller Frauen die mir als Kind - und als Erwachsener - ihre Liebe bezeugten, Ruhe fand - ob es denkbar ist, dass die fromme Jüdin es nicht über sich brachte den nicht-jüdischen männlichen Säugling in ihre Arme aufzuheben, zu herzen und zu küssen. Jedenfalls, war jener Albtraum der erste Auftritt einer Trennungsangst die mein späteres Leben prägen würde. Ein weiteres Mal trat diese Angst in Erscheinung im Juli 1936, als meine Eltern meine Schwester und mich in ein Ferienkinderheim auf der westfriesischen Insel Juist unterbrachten. Auch da weinte ich fast ununterbrochen aus Sehnsucht nach meinen Eltern, besonders, nach meiner Mutter. Bemerkenswert, dass ich bei meiner Großmutter mütterlicherseits, in Berlin-Nikolassee, ruhig und zufrieden war. Was mir nach unsrer Ankunft in New York geschah, hab ich in einem im Internet veröffentlichen Aufsatz, "With the Flanders", beschrieben. http://home.earthlink.net/~ernstmeyer/notes/Flanders.html Nächst im Jahre 1942, scheiterte an meiner Trennungsangst der Versuch mich in der achten Klasse in Germantown Friends School in Philadelphia einzuleben. Erst 1945, in meinem 15 Lebensjahr, gelang es mir das Elternhaus zu verlassen. Bis zu diesem Zeitpunkt fühlte ich mich fast nur dort geborgen. Mein Vater, meine Mutter, meine Schwester und ich hatten New York City am 14. Oktober 1939, verlassen. Fuhren ab von dem monumentalen Bahnhof, Pennsylvania Station, Ecke 34. Straße. Besinne mich der Schwärze des langen Hudson Tunnels welche den langsam anfahrenden Zug minutenlang umfing; dann bei der kurzen Pause in 30th Street Station in Philadelphia fesselte meine Vorstellung das geheimnisvoll mir eine zweite Heimat versprechende Schild "Germantown". Am Bahnhof, Union Station, in Washington wurden wir vier von einer kleinen Delegation Kirchenbeamter in Empfang genommen und in einem nahliegenden Gemeindehaus für die Nacht beherbergt. Am nächsten, am Sonntag, Morgen den 15.10.1939 brachte man uns zurück zum Bahnhof zur neun Stunden langen Fahrt durch die herbstliche Landschaft Virginias zu unserem Reiseziel, Marion. Hier begrüßte uns ein schmächtiger, freundlicher Mann zwar deutscher Abstammung doch längst der deutschen Sprache verlustig, der Leiter der Mission, namens Fred W. Kirsch, wohl eigentlich im deutschfreundlichen nördlichen New York State, dem deutschen Kaiser zu Ehren, Friedrich Wilhelm Kirsch getauft. Mein Vater im Vordersitz neben ihm; im Rücksitz meine Mutter, meine Schwester und ich, fuhr er uns auf Serpentinenstraßen über zwei Bergketten nach Konnarock; hielt auf dem Wege an einem kleinen unscheinbaren Bauernhof um den Pfarrer, einen Pastor Ott, der selbst kein Auto besaß, mit nach Hause zu befördern. So wurde der dritte Körper in den engen Vordersitz des kleinen Autos gepfercht, und Fred Kirsch steuerte seinen bepackten Wagen über die staubige, holprige Einbahnstrasse mit Ausweichstellen über den unbenannten Pass ins Konnarocktal; vorerst zur Mädchenschule, Konnarock Training School, wo wir vier die erste Nacht in der neuen Heimat einquartiert sein würden. Die vier Lehrerinnen hießen uns willkommen; das waren Katarina Umberger, Vorsteherin, welche damals die Sehnsucht nach einem Mann noch nicht überwunden hatte; Miss Sadie Ponwith, eine besonders fromme, gebildete, elegante und höfliche alternde Jungfer aus Crookston, Minnesota, Miss Marion Waldron aus New Jersey, und Miss Ida Twedten, die Schulkrankenschwester deren Pflichten durch die Ankunft des neuen Arztes erheblich vermindert wurden. Im geräumigen Speisesaal bekamen wir das Abendbrot. Dass wir auch nur einigen von den Schülerinnen dieses Frömmigkeitinternats begegnet, oder sie uns gar vorgestellt wären, vermag ich mich nicht zu besinnen. Indem ich all diese Einzelheiten dem Gedächtnis ausgrabe und im Gegenwartsbewusstsein zusammenreihe, wird's mir bewusst wie unheimlich fremd mich diese Gesellschaftsumgebung anmutete, - und doch im Vergleich mit dem Nazi-Braunschweig, wie freundlich, wie harmlos, wie unbedrohlich. Am Morgen brachte man uns ins eigene Haus. Das war das alte Pfarrhaus, das leer stand weil Pastor Ott, der in der Knabenschule (Boys' School) wohnte, ein Witwer war. Ein kleines Holzhaus, vor etwa vierzig Jahren gebaut, mit zugigen Fenstern, mit einer qualmenden Heißluftheizung, mit einem gusseisernen holzbrennenden Küchenherd. Spinnengewebe überall. Bettgestelle müssen vorhanden gewesen sein, denn ich besinne mich nicht, dass wir auf dem Fußboden geschlafen hätten. Sonst kein Haushaltszubehör. Am zweiten oder dritten Tage kam der fast leere Möbelwagen mit dem beschädigten Restbestand unsrer Möbel, Bücher und Wäsche. Gewissermaßen war durch den Empfang unseres armseligen Besitzes unsere Lage verschlimmert, denn nun war das kleine schäbige Haus unordentlich mit fast unbrauchbaren, überflüssigen Habselig- keiten überfüllt die kaum zu mehr dienten, als uns an das Verlorene zu erinnern und uns die Brenzlichkeit unserer Situation zu vergegenwärtigten. Zum einen Ungemach kam das nächste. Mein armer Vater war praktisch arbeitslos. Zwar war sein ärztliches Instrumentar zureichend erhalten, doch fehlte jeglicher Arbeitsplatz für die Ausübung ärztlicher Tätigkeiten; und beunruhigender noch, mein Vater bekam Nachricht im Staate Virginia würde seine Genehmigung im Staate New York zu praktizieren, nicht anerkannt. Er musste sich einem weiteren Examen unterziehen, und musste zu diesem Zweck in die Staatshauptstadt, Richmond reisen. Aber auch dies besorgte er, und bestand und fing an, nach seiner Rückkehr vom zweiten Staatsexamen, vereinzelt Hausbesuche zu machen um die neuen Patienten zu untersuchen, zu behandeln und in der ihm noch immer fremden Sprache zu beraten. Es wurde kälter, die Tage wurden kürzer und das Qualmen der leckigen Heizung unverkennbarer. Weihnachten kam. Nie hatte ich meine Eltern in so anhaltend trüber Stimmung erlebt. Die dürftigen Geschenke die sie für meine Schwester und mich zusammentrieben besagten ihre Liebe und bestätigten unsere Armut, denn wir hatten keinen Besitz außer dem havarierten Haushaltsbestand; und als Unterstützung nichts als $50 pro Monat welche die Kirche uns spendierte. Doch besinne ich mich noch heute, wie zufrieden, wie dankbar, wie glücklich ich war in dem ersehnten Zusammensein mit meinen Eltern, das einzige worauf es mir ankam, und wie gleichgültig gegen die scheinbaren Unzulänglichkeiten unserer Existenz. Ich wurde krank. Ich kriegte Scharlach. Man legte mich ins Bett im kleinen Schlafzimmer unterm Dach, ausgerüstet mit einem Stab um auf den Fußboden zu klopfen falls ich Hilfe benötigte. Dieses Stabs bediente ich mich nun als Trommelschlägel zum Pauken mit dem ich das Lied begleitete das ich aus voller Kehle sang: "Jauchzet, frohlocket, auf, preiset die Tage, rühmet, was heute der Höchste getan! Lasset das Zagen, verbannet die Klage, Stimmet voll Jauchzen und Fröhlichkeit an!" (Eingangschor zum Weihnachtsoratorium) Der Frühling kam. Die Renovierung eines großen alten Wohnhauses im Dorf in ein noch größeres "Medical Center" wurde begonnen. Im ersten Stock waren Wartezimmer, Sprechzimmer, Operationssaal, Laboratorium, und ein kleines Privatbüro das meine Eltern ihr Kaschöttche nannten. Außerdem zwei kleine Krankensäle mit je zwei Betten, ein Badezimmer und eine "Diätküche" für die theoretischen bettlägrigen Patienten die sich nie verwirklichten. Im zweiten Stock war die geräumige Wohnung für uns, mit Küche, mit Badezimmer, mit zwei kleinen und einem größeren Schlafzimmer, mit Wohnzimmer, Esszimmer und einer kleinen quadratischen eingeglasten Veranda mit Ausblick nach drei Seiten, groß genug für einen kleinen Esstisch mit vier Stühlen wo wir oft, besonders im lichten Sommer, unsere Mahlzeiten hatten, und wo ich später, bis früh in den dämmernden Morgen, die langen Briefe an meine künftige Frau verfasste. Der erste Dienst den mein Vater seinen Arbeitgebern leistete, war sie zu überzeugen, dass sie von dem beabsichtigten "Krankenhaus" mit vier Betten, als von eine unpraktischen Unmöglichkeit absehen sollten. Umso intensiver arbeiteten meine Eltern, die Zahl der Patienten wuchs und die bescheidenen Gebühren häuften sich, so dass nicht nur sämtliche Unkosten der Praxis sondern auch ein mäßiges Gehalt mit ihnen bestritten wurde. Sie ersetzten die verdorbenen Schlafzimmer, Wohnzimmer und Esszimmer Möbel, den alten für 60 Hz Wechselstrom untauglichen Plattenspieler, und besorgten einen neuen Radioapparat mit dem wir allabendlich die furchtbaren Nachrichten über den schecklichen Krieg den die Deutschen über Europa verhängten zur Kenntnis nahmen. Meine Schwester und ich besuchten die kleine Schule im Dorf: zwei Klassen in jedem Zimmer, und jedes Zimmer mit etwa dreißig Schülern. In Braunschweig war ich seinerzeit aus Herrn Hirsekorns Sechster Klasse ausgeschieden. In Chappaqua war es kurzweilig nach hiesiger Numerierung die Vierte. In Konnarock befand ich mich anfangs in der fünften Klasse. Meine Lehrerin war eine junge Frau und hieß Muriel Coltrane. Miss Coltrane war von ihren anderen Schützlingen so überlastet, dass sie von mir, der ich ihr keine Schwierigkeiten machte, kaum Notiz nahm. Auch mein Lehrer im folgenden Jahr in der sechsten Klasse, ein Mr. Litton, hatte mit mir so wenig Schwierigkeiten wie ich mit ihm. Schulpflichtigkeit erstreckte sich damals auf sechzehn Jahre, und verschiedene meiner Mitschüler die Jahr für Jahr sitzen geblieben waren, hatten dies Alter erreicht. Es begab sich dass einer von ihnen dem ich missfiel, mich eines Morgens von meinem Pult in die Höhe zog um mich dann zu Boden zu schleudern, ohne jedoch mich körperlich zu verletzen. Dieser Vorfall bewog meinen Vater zu einer ergebnislosen Unterredung mit dem gänzlich ratlosen Schulvorsteher, einem Mr. Warren, der mit seiner jungen Frau in einem Wohnwagen nicht weit entfernt von uns hauste. Im folgenden Jahr, in der siebten Klasse, vielleicht weil ich älter und geistig anspruchsvoller wurde, schien das Niveau der Schulung auf einen noch niedrigeren Pegel zu sinken. Die Lehrerin, eine ältere Frau deren Name mir entgeht, war von den Ansprüchen des Lehrstoffs, - ich glaube es war amerikanische Geschichte, dermaßen überfordert, dass sie nicht zu lehren wusste, als ihre Schülern regelmäßig zu beauftragen, Antworten auf die Fragen am Schluss des jeweiligen Kapitels in ihre Hefte einzutragen, Antworten welche die Lehrerin selber jedoch zuweilen nicht zu erstatten vermochte, und um welche sie dann mich um Hilfe bat. Die Kümmerlichkeit dieses Unterrichts veranlasste meine Eltern sich nach Schulen für beide meine Schwester und mich, anderen Ortes umzusehen. Doch, ungeachtet der Dürftigkeit der Schulung, lag mein Denken in jenen Jahren keineswegs brach. Ohne mich selbst zu beteiligen, verbrachte ich manche Stunde auf dem Bauerngut das die Kirche verwaltete um den Schülern der Knabenschule, Boys School, Betätigung und Erfahrung in der Landwirt- schaft zu bieten. So beobachtete ich das Melken der Kühe, das Scheren der Schafe, das Eiersammeln in den Hühnerhäusern, das Ernten des Mais und des Weizen. Meine eigene Pflichten waren meinen Eltern gegenüber, im Sommer den Rasen zu mähen und das Auto zu waschen, im Winter die Kohle in den Fülltrichter der Heizung zu schaufeln, und mit einer Zange die Schlacken aus der Brennkammer zu ziehen; anderweitig Schuhe zu putzen, und meiner Mutter beim Abwaschen und Sauberhalten der Wohnung behilflich zu sein. Das waren Tätigkeiten die mir sinnvoll erschienen und die mir Genugtuung bereiteten. In einem dunklen fensterlosen Abteil des Kellers entstand, ohne besondere Pläne, eine Art Werkstätte und Laboratorium für mich. Denn es entwickelte sich bei mir ein dringendes Interesse zu verstehen wie die verschiedenen Apparate mit denen ich bekannt wurde, funktionierten, und die welche kaputt gingen, nach Möglichkeit zu reparieren. Mein Interesse erstreckte sich auf Heizplatten und Ventilatoren, auf Motoren und Transformatoren, auf Taschenlampen und Beleuchtungskörper,auf Dynamos zur Erzeugung von Wechselstrom und Gleichstrom, und vor allem auf bleierne Automobil Speicherbatterien, die ich regelmäßig auseinander nahm um fehlerhafte Einzelzellen mit brauchbaren zu ersetzen, und mir somit kostenlos eine 6 Volt Gleichstromquelle zu bereiten womit ich dann mittels von Elektrolyse das leicht saure oder salzige Wasser in Sauerstoff und Wasserstoff teilte. Ich wickelte Magneten, baute Widerstandelemente und Transformatoren. Die damaligen Radios, mit versockelten Vakuumröhren eigneten sich vorzüglich zum Experimentieren; und schließlich wurde ich auf eigene Faust der Radiosachverständige des Dorfes. Damals als etwa zwölfjähriges Kind in Konnarock lernte ich, lehrte ich mich selber, die Grundlagen der Physik, der Chemie, und der Elektrotechnik. Aber viel wesentlicher, wie es mir heute erscheint, lernte ich das Lernen, lehrte ich mich, mich selbst zu lehren. Diese geistigen Übungen waren eigentlich Übungen im Denken, in einer Beziehung zur Wirklichkeit die mich zwar nicht in allen, so doch in sehr vielen Bereichen des Schaffens begünstigt hat. Wenn ich mich heute, in meinem 87. Jahre hinsetze, um ein Sonett, um eine Elegie oder eine Ode zu komponieren, ohne mich von einem berufsmäßigen Poesielehrer belehren zu lassen, dann verlasse ich mich in eben derselben selbstständigen Weise auf das eigene Verständnis, auf die eigene Erfahrung, wie damals im Keller in Konnarock als ich mit selbst-zusammengefügten Speicherbatterien elektrolytische Untersuchungen anstellte. Später während meines Medizinstudiums, erwähnte ich diese Jugenderlebnisse im Laufe meiner Privatstunden über den Protagoras mit Werner Jaeger. "Auch ich," sagte er mir, "habe mich selbst gelehrt. Herodot war mein Gymnasium." Der Versuch meiner Eltern Schulmöglichkeiten in Philadelphia, statt anderwo ausfindig zu machen, rührt soviel ich weiß von der Verankerung der Lutheraner in Philadelphia, und von der Tatsache, dass die Beziehungen zur lutherischen Kirche die vorwiegenden, und tatsächlich die einzigen waren, die meine Eltern zu jener Zeit hatten. Die lutherische Kirche verfügte über die Lankenau Schule, ein Internat für Mädchen in Philadelphia. Ob meiner Schwester Margrits Bedürfnisse oder meine entscheidend waren, oder beide gleich dringlich, weiß ich nicht. Jedenfalls wurde Margrits Einschulung in Lankenau inszeniert, und danach suchten meine Eltern mit Hilfe der Kirchenbehörden eine Schule für mich. Erst zogen sie Germantown Academy in Erwägung, dann aber erwiesen die Lehrer an Germantown Friends School sich als so zuvorkommend, dass man sich für diese Schule als die für mich passende entschied. Auf Einzelheiten besinne ich mich nicht. Untergebracht wurde ich bei Pflegeeltern, bei einem Ehepaar names Gruber mit mindestens zwei Kindern. Auch diese Beziehung wurde durch die lutherische Kirche vermittelt. Die Grubers lebten in einem bescheidenen Reihenhaus in McCallum Street im nördlichen Teil von Germantown, von wo aus die Schule zu Fuß sowohl als auch mit der Straßenbahn erreichbar war. Mr. Gruber arbeitete im Postamt. Der mit mir ungefähr gleichaltrige Sohn besuchte eine der städtischen Schulen und erarbeitete sein Taschengeld mit dem Austragen der Wochenzeitung Germantown Courier. Um zu vehüten dass ich mich meinem Pflegebruder gegenüber als überheblich erwies, wurde von mir erwartet mich gleichfalls mit dem Austragen des Germantown Courier zu betätigen. So wurde ich an dem bestimmten Wochentage, ich glaube es war Donnerstag, sehr früh, vor sechs Uhr, geweckt, fuhr dann mit der Straßenbahn zu dem mir angewiesenen Verteilungsgebiet in einem naheliegenden Teil von Germantown; es war wenn ich recht besinne das Quadrat Morris Street, West School House Lane, Wayne Avenue, West Coulter Street, so dass, wenn ich mit dem Austeilen fertig war, der Weg zur Schule nur ein paar hundert Meter betrug. Mein Klassenlehrer war Mr. James Bathgate, ein außerordentlich liebenswürdiger und liebevoller Mensch, der unter anderem uns auch Latein lehrte. Kann mich auf keine scholastischen Schwierigkeiten irgendeiner Art besinnen. Unter meinen Mitschülern hatte ich keine Freunde, kann mich auf keinen von ihnen besinnen ausgenommen eine kleinen kecken unreifen Jungen, namens Jimmy Mays, der seine knospenden Mitschülerinnen fragte: Where do you get those sweaters with the bumps in them? Es war ein trüber sonnenloser Herbst, und als ich Weihnachten nach Hause kam war ich von Trennungsleiden zermürbt. Man sah ein, dass eine Rückkehr ins Gruberhaus mir eine seelische und deshalb praktische Unmöglichkeit war; doch da einiges daran gelegen war, dass ich jedenfalls das Herbstsemester beendete, und die Hoffnung flackerte dass eine andere Umgebung ersprießlicher sein möchte und mir die Schulung in der entfernten Stadt dennoch zu ermöglichen, wurde ich im Haus des lutherischen Pfarrers, eines Pastor Klotz, untergebracht. Pastor Klotz und seine Frau verfügten über mehr anspruchsvolle Bildung als die Grubers; ich war ihnen annehmbar auch ohne Zeitungen auszutragen; besinne mich auf blasse Begeisterung für das Violinendoppel- konzert. Aber es war zu spät; meine eigenen Eltern konnten auch die neuen Pflegeeltern mir nicht ersetzen. Ich verblieb nur ein Paar Wochen, dann kehrte ich endgültig wieder nach Konnarock ins Elternhaus zurück. Dort war die Geringfügigkeit der Volksschulen ein Problem auch für die Mission. Denn während die Mädchen in ihrer "Training School" eine weit über den örtlichen Durchschnitt wertvolle Schulung genossen, wurden die Jungens zur nahliegeden Volksschule geschickt die nun auch für sie ungenügend schien. Der Missionsvorsteher ein Pastor Able Kenneth Hewitt der den bedaurendwürdigen Fred Kirsch ersetzt hatte, war gesonnen die Macht und den Einfluss des Unternehmens das er vertrat zu erweitern, und hatte ungeachtet der vorgeschriebenen Trennung von Kirche und Staat mit den Bezirksbehörden vereinbart die Volksschule und die Kirchenschule einander anzuschließen. Auf die Einzelheiten kann ich mich nicht mehr besinnen; erinnere aber dass einige der Lehrerinnen aus der Mädchenschule an der Volksschule, der sogenannten High School lehrten, und dass Schüler von der Volksschule Unterricht in der Kirchenschule bekamen. Der staatliche Schulautobus wurde eingesetzt die Schüler zwischen den Schulen hin und her zu befördern. So hatte sich zur Zeit meiner Rückkehr die Schulungslage in Konnarock verändert, aber wohl doch nur oberflächlich; denn die Schüler waren die gleichen, indessen die Qualität des Lehrpersonals an der Mädchenschule aus mir nicht ersichtbaren Gründen abgenommen hatte. Für mich waren die Jahre in der High School, mit vorgeblich anspruchsvolleren Kursen, Vorbereitung auf eine unvoraussehbare Zukunft. Die Schulung war unterschiedlich. Zum Teil sehr schlecht wie zum Beispiel Chemie, ein Fach das von einer unbegabten und verständnislosen Frau Namens Whitaker gelehrt wurde, die nichts von Chemie verstand und mich regelmäßig um Aufklärung ersuchte. Andererseits sehr gut war der Unterricht im fortgeschrittenen Latein den eine Mitschülerin Rose Cox und ich, zu zweit von besagter Miss Ponwith bekamen. Bei einem bundesstaatsweiten Wettbewerb im Lateinischen erhielt ich dann auch den ersten Preis, eine Auszeichnung die weniger über meine Leistungen als über die Niedrigkeit des vorherrschenden Pegels der Altertumssprachenkenntnisse in Staat Virginia besagt. In diesen Jahren bekam das Konnarock Medical Center in dessen zweiter Etage wir wohnten, einen unangemeldeten Besuch von der Bundesgeheimpolizei, der FBI. Ein aufs öffentliche Wohl bedachter Nachbar, ein Mr. Harvey Sheets, der über keinen Beruf verfügte als den des Forellenanglers, wenn man das Angeln aus Liebhaberei als Beruf bezeichnen darf; Mr.Sheets, jedemfalls hatte den deutsch- jüdischen Eindringling beim Spionieren, beim unbefugten Photographieren des hohen Wasserfalls des Baches "Straight Branch" zwischen Konnarock und Damascus ertappt, und hatte ihn Pflichtgemäß angezeigt. Die FBI Agenten suchten vornehmlich nach verdächtigen Büchern ohne zu wissen was sie als solches betrachten sollten; fragten meine Mutter um Rat. Fanden als möglicherweise belastend, einen in Leinen gebundenen mit Fraktur beschrifteten im Insel Verlag erschienened Band "Deutsche Volksbücher", herausgegeben von Severin Rüttgers, mit den Geschichten: Der Hörnern Siegfried, Die vier Haimonskinder, Herzog Ernst, Wigoleis vom Rade, - und andere mehr. Dieses Buch beschlagnahmten sie, aber nicht eh meine Mutter mit Bleistrift, des Besitzers Namen und Adresse, Jochen Meyer, Konnarock, Va. ins Deckblatt eingetragen hatte. Später wurde es mir zurück erstattet. In meines Vaters Laboratorium entdeckte die Bundesgeheimpolizei Sprengstoff: ein Fläschen 0,3 Mg Nitroglyzerin Tabletten. Von seiner Erklärung er verwendete diese zur Behandlung der akuten Angina Pektoris waren die Beamten nicht überzeugt. Sie beschlagnahmten zwar die Tabletten, doch unterließen es meinen Vater gefangen zu nehmen. Bei weitem gefährlicher für unsere Freiheit als Nitroglyzerin, waren meine elektrotechnischen Versuche. Als die Herren von der Geheimpolizei klopften, war ich mit dem Wickeln eines Magneten beschäftigt, und hatte dies möglicherweise inkriminierende Gerät halb-fertig auf meinem grünen Schultisch liegen. Glücklicherweise begaben die Polizisten sich zuerst an die Bücherschränke. Ich war zugegen und hörte zu, und verstand worum es ging. Ich entferte mich in den vorderen entlegenen Teil des geräumigen Hauses in mein Zimmer, öffnete das große Schiebefenster und warf das Corpus Delicti in weitem Bogen auf den Rasen. Keiner hat's gesehen. Ich hab's nie aufgesucht, und hab's nie wiedergefunden. Aber wir wurden nicht, wie etwa 11,000 andere Deutsche, interniert. Wir waren, wie Millionen andere Flüchtlinge aus Deutschland, feindliche Fremde, enemy aliens. Als solchen war es verboten uns ohne besondere Erlaubnis vom Bundesstaatsanwalt mehr als fünf Meilen von unserem Wohnort zu entfernen, eine Beschränkung die, da wir Lebensmittel vom benachbarten 30 Meilen entfernten Marion, Virginia, beziehen mussten, unser Bleiben in Konnarock unmöglich gemacht hätte, wenn nicht der Staatsanwalt Frank S. Tavenner uns unbeschränkte Erlaubnis zu Einkaufsfahrten erteilt hätte. Ob wir am Kriegsende, 1945, seine Erlaubnis bedurften den Sommer in New Rochelle zu verbringen, hab ich vergessen, besinne mich auf keinen Antrag.