19970401.00
Gestern und heute habe ich in Max Schelers Buch, "Der
Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik," gelesen.
Dies ist ein Werk mit dem ich, als ich es mir zum ersten Mal vor
etwa vierzig Jahren ansah, nichts anzufangen vermochte, wohl weil
mich die dargebotenen ethischen Theorien befremdeten, und weil
das eigene Nachdenken ueber Fragen der Ethik zu unreif war, als
dass es meinen Widerspruch ermoeglicht haette, oder auch nur eine
Darstellung meines eigenen beschraenkten Verstaendnisses. Ich
setzte die Gueltigkeit des Textes stillschweigend voraus; und wo
mir diese nicht einleuchten wollte, da bezichtigte ich nicht den
Text der Unklarheit, sondern mich selbst des mangelnden
Verstehens.
Heute sehe ich es anders. Es moegen die Genuegsamkeit und
Selbstzufriedenheit des Alters sein, die mich zu dem Urteil
verleiten, dass Schelers Gedanken uebermaessig nominalistisch
sind, in dem Sinne, dass den Begriffen ein quasi-ontologischer
Nachdruck gewaehrt wird, ein vermeintliches Eindringen der Worte
in die Wirklichkeit welches mich nicht ueberzeugt. Die Sprache,
und das gilt von philosophischer Sprache nicht weniger als von
irgendeiner anderen, hat keine eigene unabhaengige Existenz. Sie
bekommt Sinn nur als Ausdruck, als Darstellung, menschlichen
Erlebens. Fraglos ist dies Erleben sehr vielfaeltig. Wie
ueberzeugende Gedichte und Romane zu einem Kern des Erlebens
werden, so vermoegen auch scholastische und andere technische
Begriffe sich zu einem Nidus geistiger Taetigkeit zu ballen. Wo
dies geschieht, sind es aber nicht die Begriffe welche den
geistigen Inhalt liefern; es ist im Gegenteil das von ihnen
geweckte und in ihnen gespiegelte Erleben welches die Begriffe
jeweils bedeutsam macht. Auch die mathematische Symbolik wird
letzten Endes erklaerlich nur insofern es ihr gelingt
synthetisches Erleben zu erwecken.
Aus diesen Erwaegungen ergeben sich allgemeine Theorien des
Verstehens und der Hermeneutik. Erleben wird mitgeteilt; und
Mitteilung bewirkt Erleben. Mitgeteiltes hat seinen Sinn darin,
dass es mein Erleben widerspiegelt, erklaert oder erweitert, dass
es fuer mich oder fuer andere Muster oder Vorlage zu neuem
Erleben wird. Das Erleben auf welches das Mitgeteilte sich
bezieht ist unvermeidlich das Erleben des Einzelnen, weil nur der
Einzelne des Erlebens faehig ist. Das mitgeteilte Erleben mag
vergangenes, moegliches, erwartetes Erleben sein. Durch die
Mitteilung wird es gegenwaertig.
Die Mitteilung gestaltet und schafft Erleben. Sie tut dies
auf verschiedene Weisen. Die eine Weise in der die Mitteilung
Erleben schafft ist indem sie eine kuenstliche Wirklichkeit der
Vorstellungen und der Begriffe gestaltet. Somit erscheint es als
eine wesentliche Aufgabe des Verstehens sich in eine solche
kuenstliche (artificial) Wirklichkeit einzuueben.
Selbstverstaendlich unterscheiden sich die verschiedenen
kuenstlichen Wirklichkeiten nach Art, Wirksamkeit, Bedeutung und
Qualtitaet. Gemeinsam ist ihnen die Tatsache der symbolischen
Mittel, der Sprache, der Mathematik, der Bilder. Musikalische
Noten moegen in diesem Zusammenhang als mathematische Zeichen
betrachtet werden. Die Symbolik ermoeglicht die Zusammenarbeit,
ermoeglicht das Zusammenwirken der Menschen. Darin liegt ein
wesentlicher Teil ihrer praktischen Bedeutung. Die Symbolik
schafft dem Einzelnen eine angenehmere und befriedigendere
Lebenswelt. Darin liegt ein weiterer wesentlicher Teil ihrer
praktischen Bedeutung.
Was besagt es nun, zu behaupten eine Mitteilung sei wahr
oder eine Mitteilung sei unwahr. Erstens mag man sagen, dass
insofern sie tatsaechlich mitteilt, auch die unwahre Mitteilung,
wahr ist; d.h. wenn inhaltlich unwahr, so ist sie doch foermlich
wahr: es ist wahr, dass sie unwahr ist. Zweitens mag man sagen,
dass die Mitteilung wahr ist, insofern sie mit sich selbst oder
mit anderen Mitteilungen in Einklang ist. Dergleichen Wahrheit
ist oft sehr bedeutend; manchmal aber ist sie nebensaechlich.
Drittens mag man sagen, dass eine Mitteilung wahr ist, in Bezug
auf die Buendigkeit ihrer Wirkung auf den Einzelnen der sie
empfaengt.
Die Gesellschaft besteht in der Mitteilung. Die Beziehung
zum Mitgeteilten und zum Mitteilenden als solchem ist das
Verstehen. Dementsprechend ist das Verstehen ein wesentliches
Band der Gesellschaft.
Verstehen kann inbegriffen (implicit) oder ausdruecklich
(explicit) sein, inbegriffen in der Verhaltensweise die sie
ausloest, oder in ausdruecklicher Erklaerung, welche dann
wiederum Mitteilung wird.
Die Beziehung des Mitgeteilten zum Erleben ist oftmals
verwickelt. Manchmal bedarf, um verstanden zu werden, das
Mitgeteilte des gruendlichen Studiums und der Einuebung. Auch
Mitteilungen deren Sinn gering ist oder gar fast abwesend koennen
dem Empfaenger der sich bemueht sie zu verstehen sinnvoll und
bedeutend werden. Die Bedeutung der empfangenen Mitteilung
haengt nicht nur von der Qualitaet des Mitgeteilten ab, sondern
auch von der Qualitaet des Empfangs. Und in hohem Masse wird der
Mangel des einen durch den anderen aufgewogen.
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