19970403.00
Es sind die unscheinbaren Winkel unserer Existenz welche der
Betrachtung und des Verstaendnisses beduerfen. Einst hat man
versucht Wahrheit zu erreichen indem man ueberragende Schemen
entwarf in welchen jedes Erlebnis seine Erklaerung finden sollte,
und doch das Erleben seine Erklaerung nicht fand. Ich bin aber
zu dem Beschluss gekommen, dass es kaum der Unzulaenglichkeit des
eigenen Verstaendnisvermoegens zur Last zu legen ist, dass solche
Schemen mich nicht ueberzeugen, Schemen die sie einerseits
ueberhaupt nicht bestehende Probleme zu loesen beanspruchen,
andererseits aber die dringenden Probleme entweder uebersehen
oder entstellen; so dass am Ende das philosophische System mehr
Verwirrung stiftet, als es zur Aufklaerung unserer geistigen
Existenz beitraegt.
Das begriffliche Hineingreifen in den Fluss des Erlebens mit
welchem ich mich abfinden muss hat den Nachteil fragmentarisch zu
erscheinen. Zugegeben ein solches zufallsbedingtes Hineingreifen
in den Fluss des Erlebens ist untauglich die Welt ins gesamte auf
einmal zu konzipieren, hat aber andererseits den Vorteil, dass
das was bedacht und besprochen wird, tatsaechlich unmittelbar das
taegliche Leben erleutert. Auch ist es offensichtlich, dass die
meisten Ausdruecke welche die Philosophen erfinden, trotz unserer
angestrengtesten Bemuehungen keine bestimmbaren Grenzen, keinen
eindeutigen Sinn, bekommen. Die Schriften Kants oder Hegels
moegen als Beispiel dienen, dass trotzt alle Bemuehungen, das
System, am Ende, unverstanden bleibt.
Im Gegensatz nun, wenn wir unsere Begriffe und Vorstellungen
aus der Erfahrung, aus dem unmittelbaren Erleben aus dem
unmittelbaren Bewusstsein schoepfen, wird das Leben zu einer
unerschoepflichen sich immer wieder erneuernden Quelle der
begrifflichen Bedeutung; und das Denken selbst wird zu
beseeligender Besinnung. Ich gestehe, dass die Vorgaenge eines
solchen Denkens bei weitem nicht so eindrucksvoll sind, wie die
Ansprueche der systembewussten Philosophie. Sie scheinen mir
aber umso gueltiger und wahrhaftiger. Und doch: Du sollst keine
Reklame machen. und dein Verstaendnis nicht zu Propaganda
erniedrigen. Nur das vergeistigte Leben selbst soll deine
Ueberzeugungen beweisen oder widerlegen.
Die Betonung der Wissenschaftlichkeit bei Husserl und der
Einfuegung seines Denkens in die wissenschaftliche Welt bezeugen
Husserls Gebundenheit an die bestehende geistige Kultur und seine
Unfaehigkeit sich von ihr zu befreien. Grundlegend ist die Frage
inwiefern und in welcher Weise man der Wissenschaftlichkeit die
uns ueberall umgibt verpflichtet sein sollte.
Ich finde es erbaulicher davon abzusehen sich ein
wissenschaftlich gueltiges System zusammenzuschustern. Sich vom
wissenschaftlichen Zauber der Moderne unabhaengig zu machen, sich
zu befreien, hat unvorausgesehene Vorteile. Die
Wissenschaftlichkeit ist die Summe der gemeinsamen Geistigkeit,
und eine Abschottung gegen diese allgemeinen Geistigkeit wird
grosse geistige und seelische Folgen nach sich ziehen. Man muss
unterscheiden zwischen der durch Zufall und politischen
Umstaenden gestalteten Wissenschaftswelt; und jenem idealen
unerreichten und vielleicht auch unerreichbaren Bereich
objektiver Wahrheit, welche die Vertreter der Wissenschaft als
den ihrigen beanspruchen. Gegen die tatsaechlich existierende
Wissenschaft lassen sich ohne Schwierigkeiten Einwaende erheben.
Einwaende aber gegen die ideale Wissenschaft besagten Kritik an
der Struktur des menschlichen Geistes selbst.
Ich bin mir nicht im Klaren in welchem Sinne Kierkegaards
Zweifel und der Zweifel Descartes auf den er sich beruft, Zweifel
an der Existenz oder am Wirken Gottes sein moechte, und in
welchem Sinne dieser Zweifel ein Zweifel am menschlichen Denken
und am Aufbau menschlicher Gedankensysteme waere. Es mag sein,
dass die Antwort auf diese Frage sich aus dem Verstaendnis des
Goettlichen von selbst ergibt, insofern es so ebenso unmoeglich
ist am Goettlichen zu zweifeln wie es unmoeglich ist am Ich, am
Subjektiven, am Innerlichen zu zweifeln. Wenn man es dennoch
taete, so bedeutete dies dass man entweder stumpf waere oder
verrueckt.
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