19970419.00

     Anmerkungen zur Abschliessenden unwissenschaftlichen
Nachschrift

     Es ist unbestimmt, ob Kierkegaard sich bewusst war, in
welchen Masse seine Forderung an den Einzelnen Subjekt zu werden,
an die urspruenglichere Bedeutung des Ausdrucks "Subjekt", wie er
bei den Scholastikern vorkommt, anklingt.  Das Subjekt als die
den Erscheinungen, den Verwandlungen unterliegende und vermutlich
sich gleichbleibende Wirklichkeit der Dinge (und der Geister) im
Gegensatz zu der zwar augenfaelligeren aber nichtsdestoweniger
unzuverlaesslichen objektiven Erscheinung.  Allenfalls waeren
dergleichen geschichtliche Erwaegungen fehl am Platze in einer
Abhandlung, die es auf die Entdeckung und Betonung des
unhistorischen Inwendigen abgesehen hat.

     Kierkegaard fuehrt das Welthistorische als etwas dem
Menschen Aeusserliches, etwas Verderbliches an, das die Beziehung
des Einzelnen zu sich selbst und zu seinem Gott verdirbt.  Und
doch ist das Welthistorische, wie er es nennt, eine Erweiterung
des Historischen ueberhaupt; und das Historische ist ein Teil,
und ein unentbehrlicher, der menschlichen Existenz.  Ein jeder
Mensch hat seinen Namen, seine Persoenlichkeit, seine Geschichte,
als einen Teil seines Wesens.  Sollte die Geschichtlichkeit der
eigenen Person unerlaubt sein?  Wo soll denn die Linie zwischen
dem erlaubten und dem unerlaubten Geschichtlichen gezogen werden?

     Bei all ihrer Verpoenung des Welthistorischen, uebersieht
die Abschliessende Unwissenschaftliche Nachschrift, dass das Ich
in und aus seinen Erinnerungen lebt, dass diese Erinnerungen der
Stoff der Geschichte sind; dass seiner Erinnerungen beraubt,
seiner Geschichte also, der Einzelne unberechenbaren Reichtum,
vielleicht sogar die Grundlage seiner (ethischen) Existenz
verliert.  Sie uebersieht auch, dass fuer jeden Einzelnen eine
innere Notwendigkeit besteht sich eine Welt zu gestalten, einen
kosmischen Rahmen, in welchem er denkt und fuehlt und wirkt.
(oikeiosis im Geistigen) Zugegeben, dass die Weltgeschichte,
sogenannt, weit ueber den Erkenntnisbereich des Einzelnen
hinausgetrieben wird, und dass demgemaess der Anspruch auf das
Welthistorische den Dozenten laecherlich macht.  Dennoch muss die
Verunglimpfung des (welt)historischen ihre Grenzen haben.  Denn
alles Historische draengt zum Welthistorischen Wie die
Fluessigkeit sich ueber die Flaeche ausdehnt auf die sie gegossen
wird, und das Gas den Hohlraum in welchen es eingelassen wird,
ganz ausfuellt, so draengt alle Geschichte, insofern sie es nicht
schon ist, Weltgeschichte zu werden.

     Hans Martin Junghans, der Uebersetzer des Kiekegaardtextes,
vergleicht die Abschliessende Unwissenschaftliche Nachschrift, in
ihrer historischen Bedeutung, mit der Kritik der reinen Vernunft.
insofern als nunmehr kein Denken ueber diesbezuegliche Themen
moeglich waere, es sei denn in Bezug auf diese beiden Buecher.
Das ist so welthistorisch gedacht, als haette der Uebersetzer
dies Buch uebersetzt wenn nicht, ohne es zu verstehen, dann
gewisslich, ohne es ernst zu nehmen.  Jedenfalls haben die Kritik
und die Nachschrift die Unuebersichtlichkeit gemeinsam, Sie beide
unterlassen es, die Widersprueche, die sich ihren Entdeckungen
auftun, buendig darzustellen.  Sie beide fuehren den Leser in
eine undurchdringbare, (impenetrable) gedankliche Wirrnis; in
beiden Faellen legt der Leser sein Unverstaendnis, das vielleicht
von den Texten selbst herruehrt sich selber zu Last.  Auf die
Texte selbst aber faellt ein Glanz von Gueltigkeit der ihnen
vielleicht nicht gebuehrt (zukommt).

     Den Widerspruechen die man aufdeckt, die sich im Laufe der
Forschung entwickeln, soll man nachspueren. Man soll ihnen in
alle erdenklichen Schlussfolgerungen nachgehen.  Statt mit ihnen
zu spielen und zu necken, soll man all ihre Konsequenzen
aufzaehlen und darstellen.  Darin liegt die Aufgabe des denkenden
Menschen.  Aber vielleicht ist diese, den entdeckten
Widerspruechen gerecht zu werden, eine ungehoerige, uebermaessig
anspruchsvolle, wenn nicht gar eine unmoegliche Forderung.
Vielleicht waere der einzige adequate Respons auf den Widerspruch
das Schweigen, denn den Widerspruch summarisch auszusprechen ist
offensichtlich unmoeglich, und der Ansatz es zu tun ist
irreleitend.  Dieser Gedankengang bezeichnet eine Dialektik in
welcher das Denken die eigenen Grenzen entdeckt und
unwiderruflich in diese Grenzen eingeschraenkt wird.

     Zweck und Ziel und Sinn der kierkegaardschen Bemuehungen
sind die evig Bevidsthet, die evig Salighed.  Was soll ich mir
darunter vorstellen?  Meint Kierkegaard wirklich eine
Verlaengerung auf unabsehbare Zeit dieses sich fortschleppenden
irdischen Lebens? Beabsichtigt er eine todlose Existenz in einem
ueberirdischen "Paradies"?  Was wuerde dann aus denen von uns,
die unfaehig oder unwillens sind einer solchen Belohnung, die
mich des oefteren wie eine Strafe anmutet, willkommen zu heissen.
Ist der Zweifel am Wert der Unsterblichkeit etwa die Suende
wieder den Heiligen Geist?  Waere es uns Verdammten dann noch
erlaubt Kierkegaards Schriften zu lesen, uns an ihnen zu
erfreuen?

     Eine Grenze, vielleicht sogar eine Schwaeche der
kierkegaardschen Subjektivitaetslehre sehe ich in der Tatsache,
dass er, bei aller Betonung, jede naehere Beschreibung der
Subjektivitaet unterlaesst, sowie auch deren Unterscheidung gegen
die Objektivitaet.  Zugegeben, dass Definition und Unterscheidung
selbst objektive Vorgaenge sind, mit welchen man das Wesen der
Subjektivitaet zwar anzudeuten vermag, niemals aber in
erschoepfender oder auch nur hinlaenglicher Weise zu beschreiben.
Dieser Mangel liegt im Wesen der Sprache, alles Besprochene ist
als Besprochenes objektiv, gleichfalls ist alles Beschriebene als
Beschriebenes objektiv. Wenn wir etwas ueber die Subjektivitaet
aussagen wollen, muessen wir es objektiv aussagen: da geht kein
Weg drum rum. Damit aber ist wiederum die Beschraenkung der
Unterscheidung subjektiv-objektiv angezeigt.

     Die herkoemmliche Verknuepfung des Subjektiven mit dem
Innerlichen erfordert weitere Erlauterung.  Die Hypothese, dass
Die Subjekt-Objekt Spaltung ist Ausdruck der gesellschaftlichen
Ambivalenz sein moechte, dass der Mensch in der Gesellschaft
erwaechst und gedeiht, sich aber doch stets als Einzelner erlebt,
dass, mit anderen Worten, die Individualitaet ihm aus der
Gesellschaft erwaechst, ihn aus der Gesellschaft entfuehrt, und
wesentlich zu seiner Selbsterhaltung beitraegt.  Dennoch wird das
Individuum nie voellig unabhaengig von der Gesellschaft, und
bleibt ihr das koeperliche und seelische Wohlsein schuldig.

     Diese Tatsachen legen es nahe, dass das subjektive Erleben
ein persoenliches sein sollte, das objektive Erleben aber ein
gesellschaftliches, in eben dem Sinne, dass das objektive Erleben
den verschiedenen Mitgliedern der Gesellschaft zugaenglich ist,
und dass es, tatsaechlich, (as a matter of fact), ueberhaupt erst
durch die Gesellschaft ermoeglicht und geschaffen wird.  In
weiterem Rahmen mag man bestimmen, dass das subjektive Erleben,
insofern es nicht ganz primitiv die Empfindung des Schmerzes oder
sonst der koerperlichen Wohligkeit ist, eine verfeinerte
Abwandlung des objektiven Daseins ist.  Eine andere Deutung
wuerde es wahr haben, dass das Bewusstsein des Menschen, dass
sein Gewissen, immer nur ein einzelnes, inwendiges, individuelles
sein kann; dass aber das objektive Dasein, - oder das Dasein des
Objektiven, ein stummes, geistloses ist, welches darauf wartet,
dass der Einzelne ihm den Hauch des Lebens einblase.

     Wenn die Subjektivitaet die Wahrheit ist, dann ist die
Objektivitaet die Unwahrheit.  Damit die Wahrheit der
Subjektivitaet zur Geltung kommen kann, wird es notwendig sein,
dass die Beschraenkungen, d.h. die Unwahrheit der Objektivitaet,
die Unzulaenglichkeiten des objektiven Wissens ausgestellt
werden.  Diese Demonstration der Unzulaenglichkeit des objektiven
Wissens, und nicht die Gruendung einer neuen zuverlaessigeren
Wissenschaft, ist das Ziel welches sich die Philosophie (das
Denken) vor Augen halten muss.

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