19970420.01

     Die Gewaehr des objektiven Wissens ist die Bestaetigung des
Erwarteten.  Zwar ist die Erwartung (expectatio, Aussicht)
inwendig und subjektiv; aber deren Bestaetigung in einer
moeglichen Zukunft geht ueber das Inwendige hinaus, wird
aeusserlich, gegenstaendlich, objektiv.

     Es ist jedoch ein verhaeltnismaessig beschraenkter Umkreis
in welchem die Erwartung lediglich des Einzelnen von dessen
spaeterer Erfahrung bestaetigt wird.  Ich habe schon auf den
subtilen Mechanismus hingewiesen, womit der Einzelne sich ueber
die Fehlerhaftigkeit seines objektiven Wissens hinwegtroestet
oder hinwegtaeuscht, so dass ungeachtet aller empirischen
Enttaeuschungen ihm die scheinbar unversehrte Vorstellung eines
idealen Wissens hinterbleibt.  Wenn man genauer hinblickt, und
mit dem Mut der Erkenntnis begnadet ist, dann sieht man, dass nur
ein sehr geringer Teil subjektiver Erwartungen nachtraeglich von
der Erfahrung bestaetigt werden, dass aber die nahtlose
Berichtigung des verfehlt Erwarteten zu einer so raffinierten
Vollendung entwickelt ist, dass die Fiktion einer durch und durch
erkannten und daher vollstaendig kontrollierten und vom Einzelnen
selbst gesteuerten Welt, trotz aller Enttaeuschungen, unversehrt
erhalten bleibt.

     Diese scheinbare Vollstaendigkeit und Hinlaenglichkeit
(completeness and sufficiency) des objektiven Wissens wird
unendlich verstaerkt durch das geistige gesellschaftliche
Zusammenwirken der Menschen.  Dies Zusammenwirken hat seine tiefe
Wurzel in der Gemeinsamkeit der Sprache und in der Gemeinsamkeit
des Geistes, welche die Sprache bezeugt; wird dann aber
systematisch und programmatisch durch die in den Schulen gelehrte
Wissenschaft, ins Besondere durch die Mathematik, in hohem Grade
verstaerkt; so dass das angelernte Wissen fast eine groessere
Rolle im Bewusstsein des Einzelnen spielt als das aus eigener
Erfahrung entwickelte. Tatsaechlich sind das angelernte und das
selbst erfahrene Wissen so eng ineinander verwoben, dass sie in
der Praxis, wie etwa in der Ausuebung eines Berufes kaum oder
garnicht von einander zu unterscheiden sind.

     Hinzukommt, dass das angelernte Wissen auch eine Art
Erfahrung ausmacht, dass der in irgendeiner Schule gelernte
geistige Stoff auch in seiner Weise erfahren wird.  So kommt es
dass dem reifen seinen Beruf ausuebenden Menschen nicht nur der
Unterschied zwischen erfahrenem und gelerntem Wissen verborgen
bleibt; sondern dass die Erfahrung selbst durch die
Voreingenommenheiten und Vorurteile des angelernten Wissens
verdorben wird, und der Mensch nicht selten als eigens erfahren
betrachtet, was er aus gesellschaftlicher Mitteilung als wahr zu
schaetzen gelernt hat.

     Denn die Gelegenheit des Lernens erstreckt sich in dem von
Mitteilung beherrschten modernen Leben, weit ueber die formelle
Schulung hinaus, und diese ist ein nur geringer und
verhaeltnismaessig unwesentlicher Teil der geistigen Einfluesse
unter denen sich das Gemuet des Einzelnen entwickelt, von denen
es gestaltet, und von denen es letzten Endes erhalten wird.  Und
dieses angelernte objektive Wissen, das dem Einzelnen von der
Frucht der eigenen Erfahrung fast ununterscheidbar ist, teilweise
fehlerhaft und ueberall begrenzt, ist kuenstlich und
willkuerlich, und wird fortwaehrend durch gesellschaftliche
Uebereinkunft bestaetigt und bestaerkt, so dass kein
realistischer Massstab fuer seine Gueltigkeit vorhanden ist.

     Die Fehler des primaren, des Erfahrungswissens lassen sich
auf die Unzuverlaessigkeit der Sinneseindruecke, auf die
Beschraenktheit des Gedaechtnisses, vor allem aber auf die
Schranken der Urteilskraft zurueckfuehren.  Sie sind, kurzum,
Reflektionen der Beschraenkungen des menschlichen Geistes.

     Die selben Beschraenkungen des menschlichen Geistes welche
die Fehlerhaftigkeit des primaeren Wissens erklaeren tragen auch
zu der Fehlerhaftigkeit des objektiven gesellschaftlichen Wissens
bei.  Zugrunde des sekundaeren gesellschaftlichen objektiven
Wissens liegt des Menschen Faehigkeit seine Gedanken, seine
Ansichten und Einsichten anderen Geistern mitzuteilen, und
gleichfalls die Mitteilungen von ihrerseits in sich aufzunehmen
und ein Teil des eigenen geistigen Erlebnisses zu machen.
Demgemaess bewirkt das sekundaere Wissen eine ungeheure
Erweiterung des Wissensbereiches.  Und insofern das Wissen die
Voraussetzung der Handlungsfaehigkeit ist, bewirkt die
gesellschaftliche Erweiterung des Wissens eine entsprechende
gesellschaftliche Erweiterung der Handlung.  Diese Steigerung der
Handlungsfaehigkeit ist das eigentliche Wahrheitskriterion des
gesellschaftlichen Wissens.  Mit anderen Worten: das
gesellschaftliche Wissen ist in erster Linie wahr nicht weil es
einer Wirklichkeit entspricht und ganz bestimmt nicht, weil es
den Einzelnen auf eine entsprechende Erfahrung vorbereitet.  Das
gesellschaftliche Wissen ist wahr insofern es die produktive
Zusammenarbeit der Menschen steigert, indem es ein Wirken
ermoeglicht, das ausserhalb des Rahmens dieses Wissens nie
zustande kommen koennte.

     Das sekundaere gesellschaftliche objektive Wissen kann auch
unter Umstaenden eine Befaehigung und Vorbereitung zur Erfahrung
bewirken, aber dies ist dieses Wissens Aufgabe nur in
beschraenktem Masse.  Des oefteren wirkt dies Wissen selbst als
Erfahrung; d.h., man erfaehrt das Wissen und nichts anderes.  Die
unmittelbare Beziehung zur Wirklichkeit faellt aus ohne dass die
gesellschaftliche Wirksamkeit dieses Wissens dadurch
beeintraechtigt wuerde.

     Und so erkennen wir uns denn wieder als Empfaenger dieses
ungeheuren Erbes an Wissen und Wissenschaft.  Wir sind ratlos,
wie wir uns dagegen verhalten sollten.  Einerseits zwar ist dies
Wissen das unsere.  Wir haben es je nach Gebuehr in uns
aufgenommen.  Wir schalten und walten mit diesem fremden Gut.
Wir bewerkstelligen mit ihn erstaunliche Dinge.  Und doch ist es
nicht unser; und doch bleibt es uns fremd.

     Man kann behaupten die Befremdlichkeit des sekundaren
gesellschaftlichen Wissens beruhe auf seiner Objektivitaet.  Das
aber scheint mir unwahrscheinlich aus eben dem Grunde, dass das
primare objektive Wissen keineswegs in dergleichen Weise
befremdend ist.  Als Zeugnis fuer die Freundlichkeit des
primaeren objektiven Wissens, zitiere ich die Dichtung vor allem
Rilkes mit seinem Verlass auf die schlichten einfachen Dinge, die
der Seele des Menschen so nahe stehen.

     Es ist nicht wie mir scheint, die Objektivitaet an sich die
befremdet, sondern das Gesellschaftsgewebe in welchem das
sekundaere Wissen sich uns bietet.  Was ist es an der
Gesellschaft, das den einzelnen bedrueckt?  Die Spannung zwischen
dem Individuum und der Gesellschaft besteht wohl vom Augenblick
der Geburt.  Das Erwachsen des Menschen ist ein fortwaehrendes
Ringen um die eigene Individualitaet, um die Besonderheit von den
Mitmenschen, um das persoenliche, individuelle Ueberleben
(survival), und um die individuelle persoenliche Seligkeit.  Wenn
Kierkegaard das Subjekt werden als den Weg zur Seligkeit
bezeichnet, so ist es nicht das objektive Wissen an sich, sondern
das so objektive gesellschaftliche Wissen das ihn belastet und
das abzutun er sich befleissigt.

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