19970425.02

     Den der vom naiven, unvoreingenommen Standpunkt an das
Denken heran tritt und es naeher betrachtet, und den Versuch
macht, es zu verstehen: muten die Ausdruecke "objektiv" und
"subjektiv" hoechst wunderlich an. Sie klingen fast ungehoerig,
von ungezogener, unerzogener Zunge ruchlos dahin geredet, um des
Redners Unwissen und sein Unbeholfenheit zu vertuschen und zu
verdecken.

     In diesem Zusammenhang besinne ich mich auf eine
Unterhaltung mit meinem Lehrer Karl Vietor.  Ich traf ihn, es
muss vor etwa fuenfundfuenfzig Jahren gewesen sein, auf den
Stufen der Widener Bibliothek.  Ich weiss nicht mehr, ob ich die
Ausdruecke Subjektiv und Objektiv in den Rahmen einer
spezifischeren Frage einfuegte, oder ob ich ihn unumwunden nach
deren Bedeutung fragte.  Jedenfalls erinnere ich den kuehlen
ablehnenden Blick mit welchem er mein Anfuehrung dieser Worte
tadelte.  Er pflege den Gebrauch dieser Ausdruecke zu vermeiden,
sagte er mir; und ich, meinerseits, habe diese Ruege nie
vergessen, bin seither schuechtern und behutsam mit diesen Worten
umgegangen, bestrebt so gut ich konnte, sie zu vermeiden. Wenn,
sagte ich mir, diese Worte etwas Gueltiges zum Ausdruck bringen,
dann sollte es moeglich sein dieses Gueltige auch mit anderen
Worten anzudeuten.  Schon die Tatsache, dass diese Ausdruecke
unentbehrlich scheinen moechte darauf hindeuten, dass ihr
Gebrauch einen Denkfehler, eine Art geistigen Kurzschluss
bedeute, dass sie Nichtssagend waeren, oder jedenfalls dass sie
nichts besagten als ein beklagenswerte Unfaehigkeit im Denken.

     Nun hat der grosszuegige, freimuetige, manchmal extravagant
klingende Gebrauch den Kierkegaard von den Ausdruecken Subjektiv
und Objektiv macht, mich ermuntert und meinen einstigen Vorbehalt
gegen diese Worte erweicht.  In der Besprechung Kierkegaards
eigener Schriften scheint mir die Bezugnahme auf Subjektivitaet
und Objektivitaet unvermeidlich, und hat man sich erst einmal
daran gewohnt diese Ausdruecke zu benutzen, sind die Worte erst
einmal der Zunge gelaeufig geworden, dann fliessen sie hinterher
freier, ungebundener, und, wenn ich es sagen darf,
verantwortungsloser in die Auseinandersetzung.

     Was meinen eigenen Gebrauch der Begriffe Subjektiv und
Objektiv anlangt, so versuche ich mir, sooft ich mich ihrer
bediene, ueber ihre Bedeutung disziplinierte Rechenschaft
abzulegen.  Es ergibt sich, denke ich, schon in seinem
alltaeglich Gebrauch, dass der Begriff "objektiv" sich weit
klarer und schaerfer definieren laesst als der Begriff
"subjektiv" es tut.  Die Begriffsbestimmung, die Definition, ist
ja, par excellence, ein objektives Gedankenerzeugnis.  Die
Definition des Wortes Objektiv ist selbst, wie alle Definitionen,
ein Beispiel der Objektivitaet.  Dem entsprechend waere es kaum
verwunderlich, wenn sich der Ausdruck "subjektiv" weniger leicht
definieren liesse, oder garnicht.  Und dies ist tatsaechlich der
Fall.  Waere eine objektive Definition des Begriffes "subjektiv"
ueberhaupt sinnvoll?  Eine subjektive Definition ist, das
versteht sich von selbst, eine contradictio in adjecto.
Inwiefern ist es moeglich, objectiv vom Subjektiven zu sprechen?
Manches, denke ich, liesse sich sinnvoll in objektiver Weise vom
Subjektiven sagen.  Das Wesentliche am Subjektiven jedoch wird
auf andere Weise, indirekt, in der Dichtung und vielleicht in der
Musik, verstaendlich gemacht werden muessen.

     Als subjektiv bezeichne ich einen geistigen Vorgang welcher
nur dem Einzelnen der ihn zuweilen erlebt zugaenglich ist, und
welcher sich im Laufe der Zeit entsprechend der Verfassung dieses
Einzelnen und deren Veraenderungen in unvoraussehbarer Weise
abwandelt.

     Mit der Bergiffsbestimmung des Objektiven ist es einfacher.
Objekte in erster Linie sind die Gegenstaende, die Gestalten,
denen unsere Sinnen begegnen; die eine derartige Bestaendigkeit
aufweisen, dass wir uns auf sie verlassen, und dass sie uns eine
mehr oder weniger zuverlaessige, voraussagbare Welt versprechen.
Objektiv bezeichne ich eine Aussage, die vermeintlich fuer alle
Mitglieder einer Gesellschaft den gleichen Sinn, die gleiche
Bedeutung besitzt; und welche einem jeden von ihnen ueber eine
beliebig grosse Zeitspanne, denselben Sinn bewahrt.  Schon diese
Begriffsbestimmung deutet an, dass voellige Objektivitaet
vielleicht eine Unmoeglichkeit ist, insofern alles Objektive von
einem Subjekt verstanden sein muss, und im Verstandenwerden
subjektiv wird.

     Die erste, primitive Phase der Objektivitaet ist
persoenlich, ist individuell.  Ein erwachsener, reifer
intelligenter Mensch, der die Geistesstruktur seiner Gemeinschaft
verinnerlicht hat, wird faehig sein gemeinschaftlichen Kriterien
gemaess zu urteilen, und wird in der Lage sein sich ein Bild von
seiner Lebenswelt zusammenzustellen welches wesentlich mit dem
anderer Mitglieder seiner Gesellschaft uebereinstimmt.

     Die grundlegende Annahme der Objektivitaet, die der
Identitaet des wahrgenommenen Gegenstandes, naemlich dass dieser
ein und derselbe bleibt, ist eine transzendentale Annahme die
sich auf den Gegenstand "an sich" bezieht.  Theoretisch ist es
moeglich dass zwei Beobachter den einen Gegenstand in gleicher
Weise zu gleicher Zeit wahrnehmen.  Praktisch aber ist eine
solche Identitaet der Wahrnehmung eine Seltenheit.  Die meisten
Gegenstaende die wahrgenommen werden sind vielfaeltig und
veraenderlich.  Und dass wir den Gegenstand als einen einzigen
betrachten ist an sich schon Idealisierung.

     Bezeichnend fuer Objektivitaet ist die Uebereinstimmung
verschiedener Individuen betreffs der Gegenstaende die ihnen
gemeinsam gegenwaertig sind. Hier entsteht die Annahme, dass die
Gegenstaende tatsaechlich "dieselben" sind.  Man nimmt
stillschweigend an, dass dieser eine wahrgenommene Gegenstand den
vielen an seiner Wahrnehmung beteiligten Menschen in gleicher
Weise gegeben wird.  Doch ist das Gegenteil der Fall, denn der
Gegenstand welchen man als objektiv dargestellt, wird dennoch von
jedem Einzelnen der ihn wahrnimmt in subjektiver Weise
aufgenommen.

     Man nehme als einfaches Beispiel, das Betrachten eines
Baumes von zwoelf Personen.  Angenommen sie waeren alle zu
gleicher Zeit zugegen, so waere es doch koerperlich unmoeglich,
dass sie alle den Baum aus genau derselben Perspektive
betracheteten.  Stellen wir sie uns als um den Baum gereiht vor,
so wird einer den Baum von Norden, ein anderer den Baum von
Sueden sehen; womoeglich werden auch nicht alle zur selben Zeit
erscheinen.  Dass alle denselben Baum in gleicher Weise
wahrzunehmen vermoegen ist also eine Idealisierung, und ebenso
ist es eine Idealisierung, dass es ein und derselbe Baum ist den
alle wahrnehmen, wo er doch aufwaechst, sprosst, Knospen und
Blaetter treibt, blueht, fruchtets, sein Laub verliert und
stirbt.  Die Idealisierung ist in vielen Faellen ueberaus
wirksam, in anderen truegt und versagt sie.

     Wesentlich ist zu beachten, dass eine Wahrnehmung bei jedem
einzelnen der Beobachter sofort in Begriffe verwandelt wird.
Wenn ich von einem Baum schreibe, so meine ich zwar die
Gesammtheit der moeglichen Wahrnehmungen von dem Baum.
Genaugenommen aber ist es nur mein eigener Begriff von diesem
Baume der mir zugaenglich ist.  Und von diesem Begriff muss ich
annehmen, dass andere ihn mit mir teilen, eine Annahme welche
gewiss eine Approximation darstellt.

     Um bei meinem Beispiel zu bleiben, stelle ich mir vor, dass
diese zwoelf Personen die den Baum besichtigen, oder genauer
ausgedrueckt, die den Baum wahrnehmen, ihn ueber Monate und Jahre
hinweg diese Wahrnehmungen ueber sich ergehen lassen; der erste,
sagen wir, wenn der Baum ein paar zentimeter kleines Gewachs ist,
der mittlere, wenn der ausgewachsene Baum in voller Bluete steht;
der letzte wenn der Baum, laengst vom Winde umgebrochen, morsch
und faeulig zu Boden liegt. Dennoch, war und ist es der gleiche
Baum!  An diesem Beispiel wird zugleich die Problematik der
Geschichte ersichtlich.

     Stellen wir uns vor, die zwoelf Baumbetrachter erscheinen zu
einer Tagung, - Tage Wochen, Monate, Jahrelang nachdem der letzte
die Ueberbleibsel des Baumes besichtigte.  Ein jeder von ihnen
haette sein eigenes Bild, sein eigenes Verstaendnis von diesem
Baume.  Angenommen nun, dass ein jeder von ihne ein kluger Mensch
waere, so wurde er keineswegs darauf bestehen, dass seine
persoenliche fragmentarisches Vorstellung den Baum erschoepfend
zu beschreiben vermoechte.  Man koennte zum Beispiel sich auf
Zeichnungen und Photographien stuetzend, ein Replica, ein Modell
von diesem Baume herstellen; aber kein solches Modell koennte die
Vielfaeltigkeit und Veraenderlichkeit des wirklichen Baumes zum
Ausdruck bringen.

     Die wesentlicheste Beschraenkung der objektiven Wahrnehmung
liegt aber nicht in der Unterschiedlichkeit der Perzeptionen
verschiedener Betrachter wie in der Unterschiedlichkeit mit
welcher diese Perzeptionen gedeutet und verstanden werden. Dieser
Umstand wird klar, wenn man den Baum als Gegenstand der
Betrachtung zum Beispiel mit einem Kunstwerk ersetzt, oder
markanter noch, mit einem Buch in zwoelf identischen Exemplaren.
Gewiss wuerde ein jeder der zwoelf Leser sein eigenes subjektives
Verstaendnis des Buches entwickeln, es sei denn, dass das Buch
ein mathematisches sei, in welchem Falle das Verstaendnis der
Zwoelfe tatsaechlich identisch waere und auf einer vorbereitenden
Dressur beruhe, welche allein das Verstaendnis moeglich macht.

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