19970427.00
Auf einer bestimmten Stufe des Bewusstseins wird sich der
Mensch der Zufaelligkeit und Unbedeutsamkeit seines Daseins im
Vergleich zu der Gesamtheit anderer lebender und lebloser Dinge
gewahr. Ich nenne dies das Wissen um seine objektive
Unwesentlichkeit. Zugleich aber beherrschen ihn die Gefuehle der
einzigartigen Bedeutung seines Lebens fuer ihn selber. Dies
nenne ich den subjektiven Anspruch auf Bedeutung, auf
Unendlichkeit und Ewigkeit. Das objektive Wissen und der
subjektive Anspruch liegen miteinander in Widerstreit. Das
objektive Wissen verachtet den subjektiven Anspruch; der
subjektive Anspruch bezweifelt das objektive Wissen.
Tatsaechlich aber entspringen der subjektive Anspruch und
das objektive Wissen nicht nur aus ein und demselben Gemuet,
sondern die beiden entstehen, in dialektischer Weise, aus ein und
derselben Reflexion. Der subjektive Anspruch kann das unendliche
Firmament darunter er sich seiner bewusst wird nicht verleugnen;
Die Schaetzung des auch mit dem Fernrohr undurchdringbaren
Sternenhimmels und seiner Ueberzeitlichkeit ist die unentrinnbare
Begleiterscheinung zu jedem subjektiven Anspruch. Mit anderen
Worten: der Anspruch des Ichs auf Gueltigkeit ist sinnvoll auch
unter dem gestirnten Himmel; und die Erkenntnis des unendlichen
Himmels ist sinnvoll auch in Anbetracht der Hinfaelligkeit des
Ich.
Die von Kierkegaard so emsig bearbeitete philosophische
Problematik betraf ausdruecklich das Erlebnis und die Bedeutung
des Christentums und des Christwerdens. Er erkannte einen
unvermeidlichen Widerspruch zwischen subjektivem Bewusstsein und
dem objektivem Wissen, das er als "Welt-historisch" bezeichnete.
Kierkgaards Klage richtet sich gegen das Ueberhandnehmen des
objektiven Wissens auf kosten des subjektiven Anspruchs. Diese
Imbalance dachte er aufzuwiegen. Der Ausgleich soll durch ein
religioeses Erlebnis, durch die Bekehrung zu einem von
Kierkegaard neu definierten Christentum geschehen, denn in
Kierkegaards Ermessen besteht die Nachfolge Christi im
Subjektivwerden. Man mag mit Kierkegaard uebereinstimmen, dass
die unendliche Leidenschaft um die eigene ewige Seligkeit eine
Bedeutung hat so weitreichend, dass sie alles menschliche Erleben
umfasst. Es ist aber auch moeglich den spezifisch religioesen
Anlass zu dieser Problematik auf sich beruhen zu lassen, und ihr
eine umfassendere, allgemein menschliche Bedeutung zuzuschreiben.
Mein Wissen um das Welthistorische ist nur eine Erweiterung
meines Wissens um mein Erleben in diesem Augenblick; denn indem
ich mich dieses Augenblicks bewusst bin, ist er schon vergangen;
und darueber hinaus nimmt das Bewusstsein des nun schon
vergangenen Augenblicks viele weitere Augenblicke in Anspruch, so
dass die ueberwiegende Anzahl der Augenblicke deren ich mir
bewusst sein koennte, in der Reflexion versickert oder unter ihr
begraben ist, und also niemals deutlich wird.
Nicht nur ist jedes Bewusstsein ein Bewusstsein eines
Vergangenen, oder jedenfalls eines Vergehenden; es ist auch das
Bewusstseins eines Ausgedehnten, des Raumes in dem ich mich
befinde. Es ist die Raeumlichkeit auf die es ankommt. Deren
numerisches Ausmass ist unbedeutend. Denn wie die Zeit ihres
Wesens nach grenzenlos ist, so auch der Raum. Es ist mir
unmoeglich einen absoluten Anfang in der Zeit, vor dem keine Zeit
war, oder ein absolutes Ende der Zeit, nachdem keine Zeit sein
wird, vorzustellen. Ebenso unmoeglich ist es mir eine Grenze des
Raumes vorzustellen, die nicht diesen Raum von einem weiteren
abtrennt, unmoeglich mir eine Grenze vorzustellen jenseits deren
es keinen Raum gibt. Die mathematischen Formeln mittels derer
man einen unbedingte Raumgrenze oder eine vergleichbare
unbedingte Zeitgrenze aufstellt, ueberzeugen mich nicht; doch das
ist vielleicht eine Begrenzung meiner Vorstellungsfaehigkeit, und
die vermag ich mir vorzustellen.
In jedem Bewusstsein meiner Selbst ist also ein Erleben von
unbegrenztem Raum und unbegrenzter Zeit einbeschlossen und es ist
dies Erleben von Raum und Zeit welches sich ohne weitere
Reflexion zu einem Welt-historischen Bewusstsein ausdehnt. Das
von Kierkegaard aufgewiesene Problem also liegt nicht in einem
willkuerlichen Postulat des Welthistorischen. Es liegt in der
universellen Anlage zu einem solchen Postulat, eine Anlage welche
wie ich gezeigt habe, jedem Selbstbewusstsein einbegriffen ist.
Nein, das Problem liegt in der unkritischen Ueberschaetzung des
Welthistorischen als des einzig sinnvollen Inhalts des
Bewusstseins.
Die von Kierkegaard verlangte Loesung des Problems des Welt-
historischen ist die Vertiefung des Menschen in seine
Subjektivitaet, ist, mit anderen Worten, der Glaube an Gott. Es
liesse sich aber behaupten, dass dieser Glaube an Gott, das
dieses sich Versenken in Subjektivitaet, seinen Ausgleich, sein
Equivalent, seinen Ausdruck haben moechte im Zweifel, im Zweifel
am Welt-historischen ins besondere, und im Zweifel an der
gedeuteten Welt im allgemeinen. Der Glaube an Gott und der
Zweifel an der gedeuteten Welt haben jedenfalls dies gemeinsam,
dass sie nicht einmalige Handlung oder einmalige Entscheidung
sind; sondern dass Glaube und Zweifel, jeder in seiner Art, zu
jeder Zeit gegenwaertig sein muessen. Und es ist nicht zu
ueberspannt vorzuschlagen, dass vielleicht der Glaube an das
Inwendige (Gott) und der Zweifel an dem Auswendigen (Welt) zwei
Namen fuer ein einziges Erlebnis sind.
Darueber hinaus muss man erkennen, dass der beschriebene
Konflikt seinem Wesen gemaess unloesbar ist; und dass die
Trauerklage um ihn nicht seine Neuerscheinung besagt, sondern nur
ein Schwanken in der diesbezueglichen Empfindsamkeit
(sensibilitaet) der Zeit. Man koennte Sinnloseres unternehmen,
als zu versuchen die Religionsgeschichte, jedenfalls die
juedisch-christliche, als Ausdruck des Konfliktes von subjektivem
Selbstbewusstsein und objektivem Weltbewusstsein
(Zeitraumbewusstsein) zu erklaeren; oder praeziser bezeichnet,
als Versuch die Bewusstseinsschisis von Ich und Welt zu
ueberbrueken oder zu heilen.
Denn wie ist der Gottesbegriff, wie ist die
Gotteserscheinung, wie ist das Gotteserlebnis buendiger (more
succinctly) zu erklaeren denn als Uebergang vom isolierten
abgeschnittenen verlorenen Ichbewusstsein von Seiten des
betenden, Gott lobenden Menschen zu der Fuelle und Vollkommenheit
der Macht die in allen Raeumen und ueber alle Ewigkeiten die Welt
erschafft und regiert. Was ist Gott wenn nicht die
Vergegenstaendlichung des Ichbewusstseins in entgueltige
abschliessende unwissenschaftliche Wirklichkeit? Gott als
ueberall anwesend, allmaechtig, allwissend, unsterblich: was
wollen wir mehr? Ist nicht durch seine vermeinte Macht, die
Ohnmacht unseres Wissens um uns selbst aufgehoben?
Dann, unter dem Druck des sogenannten Fortschritts in der
Wissenschaft wird erkannt, dass sich die Gegenstaendlichkeit
Gottes nicht aufrecht erhalten laesst; und da flieht der Mensch
mit den Mystikern ins Inwendige und raeumt Gott eine Wohnung im
Herzen, im Gemuet des Einzelnen ein. Der Sinn dieser
Verschiebung Gottes: entweder, dass das Gemuet als subjektives
Behaeltnis nun weit genug waere ihn zu empfangen; oder aber dass
in einer von Gegenstaendlichkeit trunkenen Wissenschaftswelt Gott
derart ueberfluessig und im Wege ist, dass man ihn in die
Subjektivitaet abschiebt, um der Notwendigkeit ihn zu toeten
enthoben zu sein.
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