19970428.00
Es ist weder notwendig, nicht einmal wuenscheswert den
Ausdruck dass die Subjektivitaet die Wahrheit ist, auf die
urspruengliche Absicht Kierkegaards zu beschraenken. Darueber
hinaus, ist es unmoeglich festzustellen, was diese Absicht
(Intention) denn tatsaechlich gewesen sein mag, und dass es
weiterhin fraglich ist, of Kierkegaard es selbst wusste, denn es
liegt im Wesen der Sprache, dass ihre fernere Bedeutung weit
ueber die Absicht des Sprechenden hinausreicht, oft sehr weit
hinaus.
In Bezug nun auf den Satz, dass die Subjektivitaet die
Wahrheit sein sollte, denke ich Folgendes: erstens, dass der Satz
wiederspruechlich ist, insofern als Aussagen unvermeidlich
gegenstaendlich und objektiv sind und dass der Sinn der Aussagen
nur im gesellschaftlichen Zusammenhang, im gesellschaftlichen
Umkreis Bedeutung hat, oder auch nur verstaendlich ist. Es ist
also ein Widerspruch zu behaupten, dass die Subjektivitaet die
Wahrheit sei. Andererseits aber ist es kein Widerspruch und es
scheint ueberaus vernuenftig zu fragen, ob nicht die
Subjektivitaet der Pruefstein (touchstone) der Wahrheit sein
moechte.
Es ist notwendig, dass alles was gegenstaendlich, objektiv,
als wahr betrachtet wird darauf hin untersucht wird, in welche
Sinne, zu welchem Grade, es nun auch subjektiv wahr sein moechte,
oder allgemeiner gesagt, was es subjektiv bedeute. Damit ist,
wie mir scheint, eine sehr bedeutende Regel der Erkenntislehre
ausgesprochen, denn es ist durchaus notwendig, nicht nur nach der
objektiven Bedeutung eines Satzes zu fragen, sonder gleichfalls
die Frage aufzuwerfen, was denn dieser Satz mir in meiner
Subjektivitaet bedeutet. Es scheint mir, dass wenn diese Regel
in der Vergangenheit allgemein befolgt worden waere, vieles was
sich hinterher als fehlerhaft erwiesen hat, haette vermieden
werden koennen.
So ist die Bedeutung der Subjektivitaet fuer die objektive
Wahrheit nicht, dass die objektive Wahrheit unbedingt als falsch
oder irrtuemlich erklaert wuerde, sondern, dass ihr Gehalt, ihre
Substanz, ihre Wahrheit von subjektiver Kontrolle und Kritik
abhaengig bleiben muss; und dass die wissenschaftliche, die
objektive Wahrheit nicht wie vorgegeben, unabhaengig von der
subjektiven ist, oder gar dieser ueberlegen ist.
So verschwimmt die Vorstellung einer einheitlichen,
begrenzten, definitiven und definierten wissenschaftlichen
Wahrheit. Es loest sich auf zuerst in dem Vorbehalt
(Reservation) ihrer Unvollkommenheit, dass die Wissenschaft ja
immer noch nicht fertig ist, dass Tatsachen, Entdeckungen,
Theorien noch ausstehen, die Wissenschaft wartet auf etwas
Weiteres. Diese ewige Vorlaeufigkeit der wissenschaftlichen
Wahrheit war Kierkegaard sehr anstoessig; und er hat sich viel
darueber beklagt, und hat die Wissenschaft mit der Begruendung
dass sie immer unfertig sei, abgewiesen. Diese
Unvollstaendigkeit der wissenschaftlichen Wahrheit ist jedoch nur
eine theoretische Erwaegung; und theoretisch ist auch die
Vorstellung, dass wissenschaftliche Wahrheit perfekt oder
vollkommen sein koennte. Die praktischen Folgen der
wissenschaftlichen Wahrheit sind voellig anderer Art als ihre
theoretischen Konsequenzen. Man bedenke die Folgen zum Beispiel
von geographischen Entdeckungsreisen, oder die vielen verzweigten
Entdeckungen die der Elektrotechnik zugrunde liegen. Seit
Jahrhunderten ist die Menschheit um die Erweiterung ihres
naturwissenschaftlichen Erlebens beflissen, und diese Erweiterung
hat eine Verwandlung in der Denk und Lebensweise der Menschen
nach sich gezogen. Trotz dieses maechtigen Einflusses auf ihr
praktisches Leben haben die Menschen keine abschliessende Theorie
gefunden welche das Entdeckte und Erkannte erschoepfend erfasst.
Diese Tatsache nun weist hin nicht auf die Unwesentlichkeit
der Entdeckungen oder gar auf die Unwesentlichkeit des Wissens;
sie weist auf ein grundliegendes Missverstaendnis der Theorie,
von dem was von Theorie zu erwarten ist, was Theorie bedeutet.
Die inbegriffene Annahme naemlich ist, dass Theorie ein
Spiegelbild, ein Aequivalent, der Wirklichkeit sein sollte. Dies
aber kann niemals der Fall sein. In theologischer Hinsicht ist
ein Bildnis von der Wirklichkeit Abgoetterei. Die Theorie ist
eine Erweiterung (extension) der Sprache; sie ist und bleibt
Verstaendigungsmittel durch welches die Menschen ihre Erlebnisse,
Erfahrungen, ihr Gedanken und Einsichten mitteilen, und als
solche ist sie stets provisorisch, stets ad hoc. Und auch die
Einwirkung der Theorieen auf das menschliche Handeln laesst sich
zwar Beschreiben, aber nie erschoepfend begreifen.
Die Konsequenz dieser Ueberlegungen ist dass die
wissenschaftlichen Bestrebungen der Voelker wie auch der
einzelnen Menschen wie ein Naturphanomen erscheinen, vergleichbar
mit den Gesellschaften die sie schaffen, vergleichbar mit den
Staedten die sie bauen. Der Mensch selbst ist ein Teil der
Natur; aber das Natuerliche ist ihm nur in fragmentarischer,
unvollkommener Weise verstaendlich.
Es ist auch keine Frage, dass die Geltung der Wissenschaft
durch die Ansprueche des Subjekts, durch die Ansprueche der
Subjektivitaet beeintraechtigt wird. Daran aber ist nichts zu
aendern. Es ist kein ideologisch inszeniertes Urteil das hier
geaeussert wird, sondern ganz einfach eine Beschreibung der
epistemologischen Tatsachen, wie sie sind.
Durchaus vergleichbar mit der Beziehung der Subjektivitaet
zum objektivem Wissen in der erkenntnistheoretischen Logik, ist
das Verhaeltnis von Subjektivitaet zur ethischen Verpflichtung
des Menschen, denn dass diese Verpflichtungen gesellschaftlich
bedingt und gesellschaftlich begruendet sind daran kann keiner,
der die Dynamik der Persoenlichkeit selbst erlebt hat, zweifeln.
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