19970514.00

     Problematisch empfinde ich bei Kierkegaard die Betonung der
heiligen Lebenslust, das Verlangen und Streben nach dem ewigen
Bewusstsein und nach der ewigen Seligkeit. Ich erkenne darin eine
Abwandlung des Lebenstriebes, des Elan vital der Naturalisten,
aber auch eine Abwandlung der platonischen Sehnsucht zum
Vollkommenen, und dann wiederum eine Abwandlung des
aristotelischen Zielbegriffes.  Die sich von selbst ergebende
Aufgabe waere dann, diese verschiedensten Motivierungen auf den
gemeinsamen Nenner des allgemein Menschlichen zu bringen.

     Unangenehm hingegen ist mir die Vorstellung der
(Hoellen)strafe mittels derer der Mensch zum Guten bewogen werden
soll.  Mit der Strafe ist es denn auch so etwas besonderes; denn
der Mensch bestraft nicht sich selber: er bestraft andere und
wird von anderen bestraft. Der Mensch welcher der Strafe
preisgegeben ist, wird dadurch unfrei; denn die Freiheit besteht
darin nach eigenen inneren Gesetzen zu handeln und sie zu
verwirklichen.

     Auch bin ich mir im Unklaren ueber die Bedeutung des
Christentums in Kierkegaards Denken. Denn einerseits wird das
Christentum als hoechster, ja als einziger Wert dargestellt und
alle Ethik wird auf das Christentum bezogen. Andererseits aber
wird Lessing, der dem Christentum nicht unkritisch
gegenueberstand, als vorbildlicher Denker gepriesen. Wie ist es
moeglich den Denker so hoch zu schaetzen, und dabei sein Urteil
ueber das Entscheidendste abzulehnen?

     Zuletzt ist es dann doch das Christentum als eine fuer den
Verfasser subjektive Begebenheit, um das es sich handelt, und
nicht um die Religion der Dorfkirche, des Landes, oder gar der
Weltgeschichte.  So ergeben sich nach und nach die Folgen der von
Kierkegaard gepflegten radikalen Subjektivierung. Steht das von
Kierkegaard angebetete Christentum mit dem ihm fremden weltlichen
ueberhaupt noch in irgendeiner Beziehung?

     Was besagt der Anspruch das eigene so innig empfundene
Gottesverhaeltnis auf den Markt zu tragen, und von seinen
Mitmenschen zu verlangen, es anzunehmen, oder jedenfalls sie dazu
anzuhalten sich ein eigenes vergleichbar inniges
Gottesverhaeltnis zu erarbeiten?  Das geht nicht. (That will
never do.)  Nein, was hier vorgetragen wird, was hier zum
Ausdruck kommt, ist nichts mehr oder weniger als der Widerspruch
der individuell-gesellschaftlichen menschlichen Existenz.  Dieser
Widerspruch wird nun als ein Kunstwerk in der Welt des Geistes
erhoben, vergleichbar mit jener ehernen Schlange, durch deren
Anblick einst in der Wueste Jehovah-Moses sein Volk genesen
liess.

     Dies eben ist das Verhaeltnis der Philosophie zur Kunst;
dass naemlich jene um verstaendlich zu werden, zur Kunst werden
_muss_.  Die Art des Kunstwerkes aber, an welchem wir unsere
Genesung suchen, muss unbestimmt bleiben.  Denn die
Unzulaenglichkeiten unseres Daseins nehmen verschiedene Formen
an; erscheinen uns in verschiedener Gestalt, eine Gestalt, die,
wie mir scheint, in hohem Masse historisch bedingt ist.

     Die bezeichnende Eigenart der Neuzeit ist die Zunahme der
Bevoelkerung auf einer beschraenkten Erdkugel, und die
entsprechende Steigerung der Bevoelkerungsdichte.  Hinzu kommt
die gewaltige Verwandlung des Verkehrs und Kommunikationswesens.
welche die Menschen zugleich in engere Verbindungen mit einander
setzt und es ihnen ermoeglicht einander zu entfliehen.
Einserseits bedarf der Mensch ein Einzelner zu sein, und im Sinne
Kierkegaards, subjektiv zu werden; und andererseits ist er in
eine grosse maechtige und ueberaus wirksame Gesellschaft
vernetzt.  Diese Umstaende, mit einander im Widerspruch, bilden
den Rahmen einer bedeutenden philosophischen Problematik der
Neuzeit.

     Frueher war es anders.  Die herkoemmliche Befangenheit mit
der Frage um das Ewige Leben spiegelt vielleicht die Aengste der
Menschen denen im fuenfundzwanzigsten oder im dreissigsten Jahre
der Pesttod bevorstand.  Unter solchen Umstaenden verhaelt man
sich anders zum Sterben und zum Leben, sei es das irdische oder
das ewige, als wenn man im siebzigsten Jahre den Tod erwartet und
ihn ersehnt.  Die leidenschaftliche Beschaeftigung mit der
Unsterblichkeitsfrage scheint wie ein Rueckfall in die
Geistesbeschaffenheit laengst vergangener Zeiten.

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