19970626.00

     Kierkegaards Behauptung das Ethische sei das Inwendige ist
ganz einfach nicht wahr.  Dasz es unwahr ist erscheint schon aus
etymologischer Sicht.  Ethos, wie mores, bedeutet nicht die vom
Einzelnen fuer sich entworfene Verhaltenslehre, sondern eben die
Verhaltungslehre welche die Gesellschaft entworfen hat und welche
den Beduerfnissen der Gesellschaft entspricht.

     Die Betonung des Individuellen ist ein notwendiger,
unvermeidlicher Ausgleich der Vergesellschaftung, ein Ausgleich
welcher dann aber auch leicht in Ueberbetonung ausartet; und
diese ist krankhaft.

     Man mag den Individualitaetsethos Kierkegaards als
Kompensation (Ausgleich) erklaeren, fuer die Unruhen und
Ungewiszheiten einer uebermaeszig raschen und tiefgruendigen
Wandlung nicht nur der Lebensumstaende sondern auch der
Geistesausstattung des Menschengeschlechts.

     Die Kluft, der Widerspruch, die Spannung zwischen Ich und
Gesellschaft hat immer bestanden; und das Leben (Dasein) des
Menschen pendelt (oszilliert, schwankt) unaufhoerlich von einem
Extrem zum anderen.  Aus rein historischer Perspektive mag das
Auftreten Jesu in der geschichte als ein erneutes Sichbehaupten
des Geistes des Einzelnen gegen die Ansprueche der Gesellschaft
gedeutet werden.

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     Die Buendigkeit der Ethik beruht nun, je ob man sie als
gemeinschaftlich oder als persoenlich deutet, auf dem Zwang
welche die Gesellschaft auf den Einzelnen ausuebt, vornehmlich
durch ihre Gesetze, oder aber in dem  Bewusztsein des Einzelnen,
dessen Wuerde (self-esteem) von dem (vermeintlichen) Wert seiner
Handlung (und seiner Gesinnung) abhaengig ist.

     Es ergibt sich eine durchgreifende Unterscheidung zwischen
sogenannter formeller und materialer Ethik. Die materiale Ethik
befaszt sich mit dem _was_ getan werden soll, sei es von der
Gesellschaft oder vom Einzelnen. Die formelle Ethik ist
bekuemmert nicht um _was_ es ist, das getan werden soll, sondern
um den Zwang der bewirkt, dasz etwas getan werden musz.

     Der individuelle Zwang entspringt dem Bewusztsein des
Einzelnen.  Die Wirklichkeit des Einzelnen liegt groeszten Teils
im ethischen Zwang seines Bewusztseins und kommt in diesem zum
Ausdruck.  So bedarf der Einzelne des ethischen Zwanges um vor
sich selber zu bestehen, selbst wenn keine anderer sich des
besagten ethischen Wertes gewahr waere.

     Der gesellschaftliche Zwang entspringt materiell den Noeten
und Beduerfnissen der Menschengruppe. Aber die materielle Basis
der Ethik, die Noete und Beduerfnisse welche in Gepflogenheiten
und Gesetzen ihren Ausdruck finden, gehoeren zu einem anderen
Kapitel dieser Abhandlung.  Hier und jetzt handelt es sich um die
Autoritaet der Gepflogenheiten und Gesetze als Grundlage und als
Ausdruck der Autoritaet der organisierten Gesellschaft, des
Staates also.

     Ich meine da eine gewisse Aehnlichkeit, eine Parallele
zwischen der Ethik als Tugendlehre fuer den Einzelnen, und der
Ethik als Gesetzmaeszigkeit fuer die Gesellschaft zu erkennen.
Ob dieses Aehnlichkeit nur von mir erfunden ist, oder ob sie von
Natur besteht, ist dem Leser zur Entscheidung ueberlassen.

     Im moderne Staat mit seinen weit (intricately) verzweigten
Behoerden, mit seinen verschraenkt gestaffelten Gerichten, mit
seinen unvoraussagbaren Ausschuessen, Parlamenten und Kongressen
ist die Grundlage des ethischen Imperatifs: "So soll es sein",
oder gar, "So musz es sein."  fast bis zur Unkenntlichkeit
verschleiert.  Im Koenig- oder im Kaiserreich, in der Monarchie
ist die gesellschaftliche Bedeutung der Ethik klarer zu sehen.
Denn hier faellt scheinbar der Wille des Regierenden mit dem
Willen des einzelnen Menschen der da zufaellig regiert zusammen.
Aber nur scheinbar.  Tatsaechlich bereitet die doppelte
Verwantwortung, sich selbst als einzelnem Menschen, und der
Gesellschaft, dem Staat, als dessen Herrscher, denkbar grosze
Schwierigkeiten und Konflikte, wie sie in den Schauspielen
Shakespeares zu so lebhaftem und lebensaehnlichen (lifelife)
Ausdruck kommen.

     Die organisierte Gesellschaft, der Staat, als ein vom
Einzelnen unabhaengiges Gebilde ist alt, und laeszt sich schon im
Begriff der Polis im alten Griechenland aufweisen.  Die Beziehung
des Einzelnen zur Gesellschaft wird im Rat, in der Besprechung,
im Consilium dramatisiert, wo die Anzahl der Beteiligten gering
genug ist, dasz eines jeden Stimme gehoert wird, wo jeder das
(Vor)recht hat sein eigene Interesse zu vertreten, und doch der
Entscheidung, mitunter der arithmethischen Mehrheit, der
Beteiligten unterworfen ist.

     Der Beteiligte an einer Versammlung vermag entweder als
Einzelner auftreten oder als Vertreter einer Anzahl die ihn
gewaehlt oder ernannt hat.  Unternimmt er es, im Namen derer zu
entscheiden, die er vertritt, dann ergibt sich fuer ihn sofort
der Konflikt zwischen den Anspruechen der persoenlichen Ethik und
den Anspruechen der gesellschaftlichen.

     Man behauptet, theoretisch, dasz der Vertreter dieselben
Interessen haben sollte wie die Vertretenen. Das wuerde bedeuten,
dasz die Interessen die Beduerfnisse, die ethischen Anforderungen
des Vertreters dieselben sein koennten, oder vielleicht gar sein
sollten, wie die der Vertretenen. Ueberhaupt ist es fragwuerdig
was es bedeutet, dasz ein Mensch fuer einen anderen handelt, sei
es als Agent, als Rechtsvertreter, als Abgeordneter.  Denn somit
ist die Handlung zu etwas rein Sachlichem geworden und der
Handelnde, vollkommen objektiv.

     Man bedenke Handlungen die einzeln, individuell sind, solche
die vertretend sind, und solche die gemeinsam sind.  Doch ist
diese Unterscheidung nicht absolut.  Denn die gemeinsame Handlung
ist auch gewissermaszen individuell, und auch die individuellste
Handlung geschieht sozusagen unter der Aegis, unter der Aufsicht
der Gemeinschaft.  Die vertretende Handlung aber ist beides
zugleich, individuell und gemeinschaftlich. Die
Unterschiedlichkeit der Handlungsarten jedoch besagt nicht dasz
die eine Handlungart besser als die anderen waere, oder gar die
einzig gueltige. Die Unterschiedlichkeit weist darauf hin, dasz
jeder Handlung etwas individuelles, etwas representatives und
etwas gemeinschaftliches anhaftet; und dasz eine jede Handlung
verstaendlich wird nur insofern ihrer Angehoerigkeit zu diesen
verschiedenen Bereichen Rechenschaft abgelegt worden ist.

     Vieles, sehr vieles das ein Mensch tut ist unbedacht. Der
Teil der Handlungen die aus Verstaendnis, aus Ueberzeugung, aus
Leidenschaft entstehen ist gering. Auch sind im Allgemeinen die
Handlungen unbewuszt und empfangen ihre Erklaerungen, ihre
Rationalisierungen nur im Rueckblick, (in retrospect) aus der
Erinnerung.

     Darueber hinaus ist es widersinning vorauszusetzen, dasz der
Mensch eine Erklaerung fuer die gegenwaertige Handlung besitzt.
Unser Verstaendnis ist wirksam nie in der Gegenwart, selten in
der Gegenwart, und wenn, fast immer nur in Bezug auf die
Vergangenheit.

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