19971101.00

     Ich unterscheide zwischen der individuellen Ethik welche
sich auf das Verhalten des Einzelnen Menschen als solchen, als
Einzelnen, bezieht, und einer sozialen, oder Gemeinschaftsethik,
welche die Gesellschaft zu regeln beansprucht.  Bei erster
Ueberlegung (On first thought,) wollte es scheinen, als seien
diese beiden Erscheinungen des ethischen Prinzips qualitativ
vergleichbar, ein Satz von Regeln einerseits auf den Einzelnen
anwendbar, und dann, andererseits, mutatis mutandis, auf die
Gesellschaft.  Insofern der Einzelne als Gesellschaftsmitglied
erscheint ist diese Annahme durchaus gueltig.  Und tatsaechlich
gibt es verschiedenste Situationen in welchen der Einzelne sich
vornehmlich, oder vorwiegend, oder sogar ausschlieszlich als
Gesellschaftsmitglied vorkommt.  Es gibt auch
Gesellschaftsumgebungen (milieux) (social environments) [ z.B. im
Mannschaftssport, in der Armee, vergleiche aber auch in der
musikalischen Auffuehrung die Haltung (Stellung) des Chor- oder
Orchestermitglieds mit der des Solisten. ] in denen die
Individualitaet des Einzelnen voellig unterdrueckt, dem Ethos der
Gesellschaft voellig untergeordnet wird.

     Es wuerde eine zu starke vorgefaszte Meinung bekunden, die
verhaeltnismaeszige Wertung von Individualethik im Gegensatz zur
Gesellschaftsethik voraus zu bestimmen.  Betont werden musz nur
dasz dieser Unterschied zwischen Individualethik und
Gesellschaftsethik besteht, dasz dieser Unterschied aber in
steter Gefahr schwebt, verwischt zu werden; denn der Einzelne
sehnt sich in der Gesellschaft vergegenstaendlicht zu werden;
indessen er als Gesellschaftsmitglied auf seine Individualitaet
draengt.  Die Gesellschaft, andererseits, zwingt den Einzelnen
zur Konformitaet, zur Anpassung und Uebereinstimmung, will ihn
aber dann doch fuer seine Vergehen persoenlich verantwortlich
halteb und strafen; preist lobt und ehrt ihn aber auch
persoenlich fuer seine Errungenschaften.  Offensichtlich waltet
auf dem Gebiete der Ethik bei der Unterscheidung von Einzelnem
und Gesellschaftsmitglied eine wesentliche Zwiespaeltigkeit, die
Quelle von immer neuen Miszverstaendissen, eine Quelle jedoch
welche auf die sich immer wieder behauptende grundlegende und
unaustilgbare Verwirrung der Begriffe hinweist.

     Dies jedenfalls kann mit Sicherheit gesagt sein: es ist
stets ein Einzelner der denkt.  und es sind stets die Sprache der
Gemeinschaft und das Begriffsgut der Gesellschaft in welchen
seine Gedanken, seine Vorstellungen zum Ausdruck kommen, welche
diese selbst erst ermoeglichen.  So kommt die Doppeldeutigkeit
des menschlichen Wesens schon in dem Verfahren (procedure) das es
beschreibt zum Vorschein.

     Das Zweite, nicht zu uebersehende, ist, dasz das Denken auch
hier niemals die Sache selbst erreicht, sondern immer nur eine
Vorstellung von dem was gemeint sein soll.  Das gilt fuer die
Vorstellung dem Selbst, von der Individualitaet und der
Innerlichkeit, der Subjektivitaet auf die es hinweist, nicht
weniger als von der Gesellschaft mit ihren unzaehlbaren, und
deshalb unkennbaren Mitgliedern, welche den Gegenpol ausmachen
(bilden, constitute).  Es sind die Vorstellungen von
Individualitaet und Gesellschaft welche uns als Begriffe
unmittelbar sind. Das worauf sie hindeuten ist uns aber in jedem
Falle unerreichbar.

     So muessen wir uns mit einer Art Dichtung begnuegen, einer
Poiesis, einer fortwaehrend sich erneuernden Erfindung welche
zwar mit der Wirklichkeit in unbestimmter Beziehung steht, aber
alles andere als diese Wirklichkeit ist.  Wenn ein solches Caveat
die Gueltigkeit des Ausgefuehrten beeintraechtigt, so gewaehrt es
doch zugleich, wie alle andere Dichtung, eine Freiheit von
sachlicher Verantwortung, welche fuer alles versuchsmaeszige
Denken Voraussetzung ist.

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