19980213.04
Was soll man unter dem Ausdruck "Wirklichkeit" verstehen?
Ist es anfangs doch nur ein Ausdruck welcher die eigene
Behauptung, dasz das als Wirklichkeit oder Wahrheit bezeichnete
gueltiger, wahrer, wirksamer, wirklicher, besser,
wuenschenswerter sei; mehr aber nicht. Was aber wird ein solche
ledige Behauptung besagen? Letzten Endes aber besagt eine solche
Behauptung doch sehr wenig. In dieser Weise benutzt, scheint
mir, ist es ein Ausdruck mit welchem man pflegt andere, und sich
selber, zu betruegen.
Um sich eines Ausdruckes wie Wirklichkeit oder Wahrheit in
sinnvoller Weise zu bedienen, ist es notwendig genauer
festzustellen was der Leser sich darunter vorstellen soll, und
diese Notwendigkeit hat den groszen Vorteil zur Folge, dasz auch
der Schriftsteller ins klare kommen musz, was er denn eigentlich
mit dem gegebenen Ausdruck, im diesem Falle, "Wirklichkeit",
sagen will.
Ich habe die Frage gestellt, ob oder inwiefern, das
subjektive, inwendige momentane Bewusztsein auf welches ich mich
in jedem Augenblick zu besinnen vermag mehr oder weniger wirklich
ist als die grosze, bunte und unendlich komplizierte Welt die
sich in meinen Vorstellungen spiegelt.
Zugegeben, das Bewusztsein meiner selbst ist nicht immer im
Mittelpunkt (Brennpunkt) meiner Gedanken. Ich werde von den
verschiedensten Anspruechen abgelenkt. Stunden koennen vergehen,
ohne dasz ich meiner gewahr werde. Und dann geschieht es: ich
werde aufs peinlichste meiner selbst gewahr: ich stosze mit
meinem Zehen gegen eine Schwelle, ich werde ploetzlich von einem
Kopfschmwerz, von Uebelkeit, von Schwindel uerbermannt; ein
lautes Knallen auf der Strasse, wie ein Pistolenschusz erschreckt
mich. Aber auch Angenehmes mahnt mich meiner selbst: der
Postbote bringt mir einen Brief von einem teueren Freunde, die
Geliebte ueberrascht mich und schenkt mir eine stuermische
Umarmung. Ich sehe vor mir ein Bild aus meiner Kindheit, das
meine Gedanken dorthin zurueck versetzt und die Abgruende meines
Selbstbewusztseins vor mir aufreiszt. Was alles kann nicht
geschehen das genuegte mich aus der weiten Welt, wo meine
Vorstellungen und Phantasien umherschweifen zu dem Bewusztsein
meiner selbst zurueckzurufen. (to summon back,) Alles was mich
ueberrascht, was mir grosze Freude oder groszen Schmerz bereitet,
wird auf diese Weise wirken.
Andererseits wird dieses mein Bewusztsein meiner selbst
nichts fruchten, gewisz nicht in der groszen weiten so ueppig und
liederlich (verschwenderisch) bevoelkerten Welt. Es ist nicht
mein Bewusztsein meiner Innerlichkeit, dasz mich befaehigt ins
naechste Flugzeug nach Frankfurt, nach New York oder nach
Barcelona zu steigen. Auch nicht das mir den Spaziergang Unter
den Linden durchs Brandenburger Tor und den Tiergarten
ermoeglicht. Das kann nur geschehen, wenn ich den Flugplan recht
studiert und gedeutet habe. Wenn es mir gelungen ist einen
Sitzplatz im Flugzeug zu reservieren, und das natuerlich setzt
voraus, dasz ich zuvor genuegend Geld verdient und gespart habe.
Dergleichen praktische Vorkehrungen sind moeglich ohne dasz ich
mich auf mich selbst, auf mein Bewusztsein besinne; Im Gegenteil,
die Selbstbesinnung ist praktischen Bemuehungen nachteilig. Waere
ich zu sehr in mich selbst vertraeumt, so wuerde ich den Autobus
zur Untergrundbahn verpassen, oder die Untergrundbahn zum
Flughafen, oder das Flugzeug nach Frankfurt. Das alles geht viel
zuegiger und ist vielleicht nur moeglich wenn ich mich vom
Bewusztsein meiner selbst, meiner Seele, um mich der alten
Sprache zu bedienen _nicht_ ablenken lasse.
Bei dieser Beschreibung, Kontrastierung, Entgegensetzung des
praktisch nuechternen gegenueber der innenwaerts gerichteten
kontemplativen Lebenshaltung, faellt mir auf welch eine
Aehnlichkeit zwischen der Wendung nach Innen und der Wendung zu
Gott besteht; dasz des Menschen Besinnung auf sich selbst
vergleichbar ist mit dem herkoemmlichen Beten. In diesem
Zusammenhange ist es bemerkenswert, dasz schon das
urspruenglichste Gebet, das Vaterunser im Plural gebetet wird. es
heiszt nicht "mein Vater" sondern "unser Vater", nicht "gib mir
heute," sondern "gib uns heute". Doch eroeffnet diese Betrachtung
ein anderes Thema welches hier nicht am Orte ist.
Was hier betont werden musz ist, dasz fuer die Ansprueche
des praktischen Lebens die Selbstbesinnung, das Subjekt werden im
Sinne Kierkegaards, ueberfluessig wenn nicht gar stoerend und
behindernd ist. Deshalb ist es nicht erstaunlich, dasz man die
praktische Welt des Geschaeftes und der Wissenschaften, die Welt
der Koenige und Feldherrn als die Wirklichkeit bezeichnet, und
die andere, den Bereich des Inwendigen als Sentimentalitaet,
Mystik und Romantik beiseite tut.
Es soll nicht in Frage gestellt werden, dasz die praktische
objektive Welt funktioniert, dasz auf Grund objektiver
Berechnungen, Staedte gebaut, Laender erobert, grosze
Entdeckungen gemacht werden, der Weltraum angeflogen, der Mond
besucht wird; der ganze wissenschaftliche Betrieb ist auf
Objektivitaet aufgebat: ist Audruck von Objektivitaet. Aber es
ist doch bezeichnend, dasz all diese so erfolgreichen
Taetigkeiten auf welche die Menschen mit Grund so stolz sind von
oeffentlichen Bekenntnissen einer goettlichen Macht unterbrochen
werden.
Das Goettliche aber ist in sofern bemerkenswuerdig, indem es
ein zweifelhaftes, ganz unbestimmtes Verhaeltnis zum
Gegenstaendlichen einnimmt, und dies tatsaechlich schon seit der
Fruehe der religioesen Ueberlieferung. Man horche auf die Stimme
Gottes aus dem brennenden Busch; man bedenke die Symbolik welche
darin liegt, dasz die Zehn Gebote von einem auf den Berg
zurueckgezogegen Gott an Moses ausgehaendigt wurden. Und dann
das Verbot sich Bilder von ihm zu machen und ihn ueberhaupt zu
nennen; darin die essentielle (wesentliche) Nichtobjektivitaet
des Goettlichen ausgedrueckt wird. Wenn aber das Goettliche
seinem Wesen nach Nichtobjektiv ist, was ist es dann? Wie
verhaelt es sich dann zu jenem anderen wensentlichem
Nichtobjektivem dem Ichs? Sind Ich und Gottheit verwandt? Sind
es zwei Namen fier ein und dasselbe Erlebnis? Die sachliche
Zweideutigkeit des Gottesbegriffs, die unbestimmte, unklare
Beziehung des Goettlichen zum praktischen, von Gott und Caesar,
von Innen und Auszen, von Subjektivitaet und Objektivitaet, sind
keineswegs klar.
Es stellt sich also heraus, dasz die Frage ob es die
Inwendigkeit ist, welche wir Wirklichkeit heiszen sollen, oder
die Auswendigkeit, einfache, unzweideutige Antwort nicht
zulaeszt. Man kann sagen, dasz sie beide die Innwendigkeit und
die Auswendigkeit jede auf eigene Weise ihre Wirklichkeit haben;
so dasz das unqualifizierte Praedikat "wirklich" nur eine sehr
beschrenkte Bedeutung hat.
Darum musz festgestellt und klar ausgesprochen werden,
inwieweit die Subjektivitaet oder Inwendigkeit wirklich ist, und
in wie weit die Objektivitaet oder Auswendigkeit wirklich ist.
Um dieser Frage naeher zukommen, gilt es erst einmal so viel
Klarheit wie moeglich zu schaffen, was ich denn eigentlich mit
diesen Ausdruecken meine. Ich setze voraus, dasz diese beiden
Ausdruecke Symbole sind und dasz es erlaubt ist, diesen
symbolhaften Worten eine bestimmtere Bedeutung zuzusprechen als
der allgemeine Gebrauch ihnen gibt.
Die Worte objektiv oder aeuszerlich benutze ich um Erleben
zu benennen, das mehreren Menschen zugaenglich ist, oeffentlich,
und also auszerhalb der Menschen in dem Sinne in dem das Auge
nach auszen blickt. Damit ist alles Gesprochene und Geschriebene
als Ausdruck objektiv; indem das Begreifen, das Verstehen dieses
Objektiven unvermeidlich in eine subjektive Taetigkeit ausartet.
Subjektiv oder inwendig ist alles Erleben dasz nicht, und sofern
es nicht auszwendig und objektiv ist. So ist der Unterschied
zwischen Objektiv und Subjektiv ein wesentlich
gesellschaftlicher. Dasz was von vielen als das gleiche
wahrgenommen wird ist objektiv. Was viele Menschen aber
verschieden wahrnehmen ist subjektiv.
Aus vorhergehendem ist ersichtlich, dasz im allgemeinen die
scharfe Trennung von Subjekt und Objekt unmoeglich ist, dasz alle
Wahrnehmung eines Objektiven, etwas subjektives, individuelles an
sich haben musz, wenn nur weil es von verschiedenen Einzelnen
aufgenommen und verstanden wird; und dasz gleichfalls allem
Objektiven der Keim des Objektiven anhaftet.
Es ist nun moeglich wieder zu der Frage zurueckzukehren, ob
es die Subjektivitaet oder die Objekticitaet ist welche mit dem
Ausdruck Wirklichkeit gekroent geschmueckt gelobt werden soll;
welche Anspruch auf die Beszeichnung Wirklichkeit hat. Und es ist
sofort klar, inwiefern jedes von den beiden Polargegensaetzen
plausiblen Anspruch (has a plausioble claim)
Die Objektivitaet ist wirklich, insofern sie unentwegt am
Werke ist eine zusammenhaengende Vorstellung von der Welt zu
schaffen und aufrecht zuerhalten (to create and to maintain).
Diese zusammenhaengende mitteilbare Vorstellung schafft die
Moeglichkeit menschlicher Kooeration. Die Menschen koennen
zusammenarbeiten weil und in dem Masze indem sie durch die
Sprache und durch die nathematische Symbolik and einem
gemeinsamen Weltbild teilhaben. Ihre Befaehigung der
Zusammenarbeit ist das erste Kriterion der Gueltigkeit des
objektiven Weltbildes. dieser Gueltigkeit
Nun lebt der Mensch aber nicht als Gesellschaft, Gruppe oder
Klasse, sondern als Einzelner, Er wird geboren, er lebt und liebt
und stirbt als einzelner. Zwar ist er faehig und pflichtig sich
das objektive Weltbild zu verinnerlichen (to internalize) um
sich umso zuegiger von ihm bestimmen lassen zu koennen. Aber
diese Verinnerlichung bringt mit sich, dasz einerseits das
Auswendiggelernte als etwas fremdes, quasi-unverdauliches in
seiner Seele ruht; oder auch sonst, dasz es durch Innerlichkeit
korumpiert (corrupted) wsird, und das es anfaengt im Glanz dedr
Subjektivitaet zu erscheinen und somit untauglich fuer
erkenntnis-praktische Zwecke.
Die Innerlichkeit wird im allgemeinen bei den meisten
Menschen durch die Objektivitaet, durch die Aeuszerlichkeit
verdraengt. Der Durchschnittsmensch besinnt sich auch sich
selbst nur in Augenblicken groszen Scherzes oder groszer Freude.
Genauer betrachtet unterscheidet er nur selten, und dann nur
voruebergehend zwischen Innen und Auszen, zwischen Object und
Subjekt. Er neigt also dazu die objektive Welt mit eigenen
Vorstellungen und Phatasieen zu durchtraenken; und auch den
subjektiven Bereich vermag er nicht zu begreifen indem er
fortwaehrend den Gefuehlen, Gedanken und subjektiven Erlebnissen
eine objektive Bedeutung zumiszt, welche sie nicht haben.
Es scheint also, dasz auf Stufen hoeherer geistiger
Entwicklung erst die Tatsachen, dann die Problematik klar werden
welche die Zwitternatur des Menschen als einzelnes
Gesellschaftswesen mit sich bringt. (entails, zur Folge hat) Im
Bereich des Wissens bedeutet dies die Entwicklung und Bluete der
Wissenschaftlichkeit als streng objektive auszerliche, and
gesellschaftkriterien gepruefte Disziplin. Im Bereich der
Religion, bedeutet es die strickte Verinnerlichung der Gefuehle,
und die Bereinigung des Goettlichen von allem Objektiven.
Die Folge dieser genauen Trennung des Innen vom Auszen ist .
. . die Kierkegaardsche Philosophie. Der Mesnch ist von Natur
beiden vergliederet, dem subjektiven und dem Objektiven. Und die
Auftrennung ist ihm eine schwere Last, darunter er strauchelt und
nicht selten faellt. Beachten aber musz man, dasz es scheinbar
gerade die Spannung der Trennung ist welche den Menschen
einerseits zu kuenstlerischer andererseits zu wissenschaftlicher
Groesze emportreibt.
Was nun das Wesen und die Wirkungsweise der Subjektivitaet
anlangt, so ist sie die Besinnung des Einzelnen auf sich selbst,
unabhaengig von und entgegengesetzt der Gemeinsamkeit welche das
Objektive bestimmt, welches die Grundlage des Objektive ausmacht
(constitutes). Das Subjektive ist jenes Gefuehl und Bewusztsein
welches nur aus dem menschen selbst entspringt und unabhaengig
von seiner Gesellschaft ist. Nun liegt in dieser
Begriffsbestimmung eine Ungereimtheit, und naemlich diese: dasz
der Mensch ja ein Gesellschaftswesen ist, dasz er aus
Gesellschaft geboren, in Gesellschaft erzogen und erwachsen wird,
so dasz, wenn das Unbehagen mit dem Objektiven sich bei ihm
bemerkbar macht, er diesem laengst verschrieben ist und sein
musz, den ohne die Gemeinsvchaft haette er nicht erwachsen
koennen und koente auch heute nicht leben. Wegen dieser
Abhaengigkeit vom Objektiven ist aller Zweifel an ihm mit
Unglaubwuerdigkeit behaftet und die Hinwendung zum Innerlichen
von fragwuerdiger Aufrichtigkeit (of dubious honesty). Und doch,
wie erwahnt ist des Menschen unermuedliches Ringen mit seinem
Gott, ja die behauptete unbedingte schlechthinnige Abhaengigkeit
von Gott inescapable evidence unentrinnbares Zeugnis vom Ausmasz
der Not in welcher sich der Mensch befindet,und seines Bedarfs an
den Quellen der Innerlichkeit einen unbeschriebenen und
ungeahnten seelischen Durst zu stillen.
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