19980426.00

     Es ist keineswegs offensichtlich oder selbstverstaendlich,
was es ist, das geschieht, wenn ein Schriftstueck, oder sonst ein
Kunstwerk in die Geistesgeschichte, will sagen, in die
Weltgeschichte eingeht. Denn Schriftwerke werden immer und
ueberall verfertigt. Die meisten aber werden ueberhaupt nicht zur
Kenntnis genommen; und auch von denen welche Aufmerksamkeit
erwecken, werden die meisten vergessen.  Besonders in Anbetracht
des groszen Angebots ist es nur selten, dasz einem Werk so
nachhaltige Aufmerksamkeit zukommt, dasz man sagen koennte, es
gehoerte nunmehr zur Geistesgeschichte.

     Dasz das Kunstwerk eben weil es gut war als ein besonderes
in die Geschichte aufgenommen wurde ist eine Vorstellung welche
sich unmittelbar aus dem Wertideal ergibt und aus der
menschlichen Konkurrenz dieses Wertideal einzunehmen.  Dasz es
ueberhaupt gute und weniger gute schlechte und weniger schlechtes
Werke gibt, dasz der Wert sich nicht nur, oder ueberhaupt nicht
auf unseren Geschmack bezieht, sondern dasz der Wert ein auszer
uns bestehendes sein sollte, das ist die Grundforderung des
Idealismus.  Selbstverstaendlich bedeutet "auszer uns bestehend"
in diesem Sinne objektiv; denn es ist ja das Merkmal des Idealen
dasz es vielen, wenn auch nicht allen Menschen zugaenglich ist,
und dasz es fuer diejenigen denen es zugaenglich ist, das
gleiche, und somit eine Verbindung zwischen ihnen, ein
Bleibendes, ein Verlaeszliches, das ihre Beziehungen zu einander
bestimmt.

     (Waere Protagoras mit seinem "Der Mensch ist das Masz aller
Dinge" vielleicht der erste Existenzialphilosoph gewesen?)
Entscheidend ist hier (natuerlich) ob das Ideal um das es sich
handelt eine spirituelle Eingabe (Angabe) des Einzelnen ist, oder
ob dies Ideal ein verallgemeinerter Ausdruck der Innerlichkeit
ist, und als solcher unerlaubt, ein Goetzendienst im
Begrifflichen, durchaus vergleichbar mit dem Goetzendienst der
oeffentlichen Religion; ein Fehler dessen miszlichste Folge es
ist, dasz er die Inwendigkeit des Menschen beeintraechtigt,
aufwuehlt und zu verderben droht.  Die Idealitaet ist der
Gesetzlichkeit zu aehnlich, und sollte fuer den Glaeubigen dem
gleichen Verbot unterliegen.

     Wie immer dem auch sei: Inbegriffen oder ausgedrueckt heiszt
es, dasz diese Aufnahme der Kunst in die Weltgeschichte auf
Qualitaet beruht.  Dasz etwas bleibend ist, weil es gut ist.  Das
Umgekehrte aber waere ebenso plausibel: dasz gutgeheiszen wird
was die Macht des Ueberlebens, fast haette ich gesagt, die Macht
der Unsterblichkeit bezeugt.

     Man meint im allgemeinen, dasz die wirkliche Geschichte
politische Geschichte, Militaergeschichte, und vielleicht auch
Wirtschaftsgeschichte einbefasse; dasz aber Kunst und
Literaturgeschichte etwas abfaelliges, ungenaues, eine nur eine
Annaeherung, eine Approximation, aber nicht etwas ganz
(dazu)gehoeriges sei.  Das mag, vom Standpunkt des Objektives
etwas an sich haben.  Subjektiv aber ist genau das Umgekehrte der
Fall.

     Kunst und Dichtung sind, selbst wo sie in die Geschichte
aufgenommen sind, Aueszerung des Subjektiven, und vermoegen als
solche verstanden werden.  und obgleich Mit der Veroeffentlichung
wird das Subjective, das Innerliche zerstaeubt und zerstoben,
doch ist die Unmittelbarkeit mit welcher die Dichtung der
Innerlichkeit entspringt Wahrzeichen und Wegweiser zur
Wirklichkeit des Erlebens.  Die politische Geschichte hingegen,
die militaerische und die wirtschaftliche setzen ein objektives
Begriffschema als Gegebenheit voraus, und schaffen somit dem
Verstehen fast unueberwindbare Hindernisse.

     Genauer betrachtet, gibt es keine Literaturgeschichte.  Es
gibt Dichterwerke, davon ein jedes einzigartig ist, dem Erleben
des Dichters entpringt und entspricht, und den Vorsatz, dasz es
eine Geschichte gaebe luegen straft.

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