19980923.00
Ich versuche, der alt bewaehrten hippokratischen Praxis
entsprechend, die Kirche nicht anders zu begreifen, als alle
anderen mir erscheinenden Dinge und Vorgaenge denen ich begegne,
nicht anders als den menschlichen Koerper zum Beispiel, oder den
menschlichen Geist in ihren Gesundheits- und
Krankheitszustaenden. Diesem Unterfangen stellt sich sofort die
Schwierigkeit gegenueber, dasz die Kirche sich gegen eine solche
sachliche und leidenschaftslose Untersuchung wehrt, indem sie
Forderungen des Glaubens, der Treue, und der Zugehoerigkeit an
mich stellt, und es mir als Suende anrechnet, und mir mit
schweren Strafen, tatsaechlich mit dem Entzug der Seligkeit
droht, wenn ich es unterlasse ihren Forderungen nachzukommen.
Die Kirche sagt, Du darfst nicht fragen, du must glauben; und
beansprucht ein Anrecht auf meine Dienste, auf meine Liebe und
Aufopferung, waehrend sie mir zugleich verbietet, sie zu
untersuchen. Kaum anders als der stoerrische kranke Patient.
Und wenn ich dennoch auf die Untersuchung bestehe, so tritt damit
eine gewisse Spannung, wenn nicht gar eine gedaempfte
Feindseligkeit in Erscheinung insofern als wir beide, die Kirche
und ich uns gegenseitig gefaehrdet fuehlen. In Angesicht meines
Untersuchungsbeduerfnisses und der Kirche Anspruch meine
Seligkeit zu verwalten ist dem entstehenden Antagonismus leider
nicht abzuhelfen.
Historisch scheint es mir, dasz Gott urspruenglich nur
ausnahmsweise mit einzelnen Menschen in Verbindung trat, Adam und
Eva, natuerlich und notwendigerweise, Kain und Noah, Abraham und
Moses, und Hiob, hernach aber fast ausschlieszlich durch die
Priesterschaft, insofern deren Beziehung zu Gott eine gueltige
war. Samuel und David, Jesaja und Jeremiah. Abgesehen von der
allgemeinen Anonymitaet der Priester wurde jeder Mensch der mit
Gott, oder mit dem Gott in Verbindung trat in der Begegnung etwas
Besonderes, etwas Auszerordentliches, und wurde erst durch sie
zum erkennbaren Einzelnen.
Die urspruengliche Kirche war das Volk Israel, von Gott
durch seine Priesterschaar betreut und behuetet. Jesaja, Jeremiah
und die anderen Propheten sonst bezeugen die Unzulaenglichkeit
dieser urspruenglichen Kirche, sie beurkunden (chronicle) die
Verderbnis der Kirche, ihren Abfall von Gott, und sie verlangen
die Reinigung, die Reformation, die Erneuerung der Kirche. Und
das tut auch Jesus; und das tun alle Reformatoren der Neuzeit.
Die Frage ergibt sich, ob durch Jesu Erscheinung das
juedische Kirchenproblem geloest wurde oder ob es sich nur
anderweitig verwandelt und verzogen hat. Und in diesem Punkte bin
ich geneigt den juedischen Standpunkt zu vertreten, dasz Jesus in
die Reihe der von Gott begnadeten und gesandten Propheten
gehoert, dasz sein Kommen die Gesellschaftsproblematik die er
vorfand zwar verwandelt haben mag, sie aber keineswegs beseitigt
hat, und dasz die Kirche die er gruendete mit der Kirche gegen
welche er sich auflehnte, eine erschreckende Aehnlichkeit hat.
Das Kirchenproblem liegt tief im Wesen der Menschennatur.
Es ist das Problem menschlicher Vergesellschaftung auf seinen
Hoehepunkt getrieben, zugleich in seiner reinsten aber auch
undurchsichtigsten Gestalt. Der Mensch ist von Natur abhaengig
von seinen Mitmenschen mit denen er in einer objektiven Welt des
Wissens und des Handelns lebt. Zugleich strebt er sein leben
lang sich selbst zu werden, unabhaengig, subjektiv, frei. Diesen
Widerspruch, welchen die Kirche ueberhaupt nicht erkennt, vermag
der Mensch nicht zu loesen.
Der Staat, insofern er sich von der Kirche trennen laeszt,
fragt nicht nach der Seele oder Seligkeit des Menschen. Er ist
um des Menschen Gesundheit, seiner Sicherheit, um seine
koerperlichen und geistigen Kraefte besorgt, nicht aber um sein
Seelenheil oder gar sein ewiges Leben.
Die Probleme welche sich aus der Beziehung des Einzelnen zur
Gesellschaft ergeben: formell erscheinen sie als Rechtsfragen,
durchdringen auch die Beziehung des Einzelnen zur Kirche in
hoechster Potenz, ohne jedoch klar oder eindeutig dargestellt zu
werden. Dies ist der Fall weil das Selbstbewusztsein des
Einzelnen, welches am Groszartigsten in der christlichen
Passionsgeschichte zum Ausdruck kommt, der Anbiederung und
Eingliederung in die Gesellschaft unverbruechlich im Wege steht.
Die Nachfolge Christi besagt ein Auscheiden aus der Gesellschaft.
The the individual's imitation of Christ is incompatible with the
individual's integration into society.
Die Erneuerung der Kirche, sei es durch Luther, sei es durch
Kierkegaard, (entailed) war im einen Falle wie im anderen auf
eine Losloesung, eine Abloesung des Individuums von der Kirche
begruendet. Dasz eine solche Befreiung einen Kampf mit der
Kirche bedeuten muszte, bedarf keines weiteren Kommentars.
Bezeichnend ist, dasz diese Befreiung nicht als Aufloesung
sondern als "Reformation" der Kirche betrachtet wurde. Dies
bezeugt wie unentbehrlich dem Menschen die Gesellschaft ist.
Es scheint als ob der Mensch auch in der Perspektive der
Religion der Gesellschaft nicht entbehren koennte. Aber wenn nur
wegen des zugrundeliegenden Widerspruchs sind die
Kirchenbeziehungen dynamisch und beweglich. Der Einzelne ist
unentwegt beschaeftigt einerseits seine Gedanken, seine Gefuehle,
seine Wuensche und Hoffnungen auf die Kirche zu projizieren,
andererseits aber sich ueber die Anforderungen der Kirche auf
seine Seele hinwegzutaeuschen, oder aber diesen zu wiederstehen.
Die Enttaeuschung die sich aus diesen Beziehungen ergibt, ist
unvermeidlich.
Der Unterschied zwischen weltlicher und kirchlicher
Gesellschaft ist nur oberflaechlich und scheinbar. Wenn Jesus
sagt, Mein Reich ist nicht von dieser Welt, so bezieht sich diese
Aussage nicht auf den roemischen Staat, sondern auf die
pharisaeische Religionsgemeinschaft. Alle Gesellschaft ist,
ihrem Wesen nach weltlich, ist aeuszerlich, ist objektiv, auch
die Kirche. Die Kirche kann der Weltlichkeit nicht entgehen.
Es ist deshalb unvermeidbar, dasz die Beziehung des
Einzelnen, des Glaeubigen die Spannung des Widerspruchs aufweist;
und dasz alle kirchliche Dogmatik eine Dialektik heaufbeschwoert
welche der Unvereinbarkeit von Innen und Auszen, von
Subjektivitaet und Objektivitaet, unverkennbaren Ausdruck gibt.
So ist es unvermeidlich, dasz fuer den frommen Menschen die
Kirche sich immer wieder als Skandal offenbart, und dasz fuer die
gesetzte, erfolgreiche dogmatische Kirche der Glaeubige, der
Christus Nachfolgende, zum Skandal werden musz. Es ist heutzutage
nicht weniger wahr als vor zwei tausend Jahren: Selig ist, der
sich nicht aergert an mir.
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