20020209.06
Es ist eine irrige Annahme, dass irgend ein Buch, welches es
auch sei, die Wahrheit zu verkuenden in der Lage sein sollte.
Denn die Wahrheit, was immer sie sein moechte, laesst sich nicht
schriftlich niederlegen, laesst sich nicht vom Blatte ablesen,
laesst sich nicht aussprechen. Die Wahrheit laesst sich nur
erleben, laesst sich im Sehen, im Denken, im Fuehlen erleben;
aber immer nur vom einzelnen Menschen. Und weil das Erlebnis der
Wahrheit nur dem Einzelnen zugaenglich ist bezeichnet man dieses
Erlebnis als subjektiv.
Gewiss, eine objektive Wahrheit gibt es auch. Die objektive
Wahrheit, wenn man sie so nennen will, besteht in der
Uebereinstimmung mit anderen Menschen, und die Tatsache, dass
eine Vorstellung, ein Gedanke, ein Ausspruch gesellschaftliche
Bestaetigung findet ist ein merkmal seiner Wahrheit.
Die Uebereinstimmung mit anderen Menschen hat drei
Grundlagen. Die erste dieser Grundlagen ist die Anpassung,
beruhend auf der Tatsache, dass der Mensch ein nachahmendes Wesen
ist, dass er sich seinen Mitmenschen, dass er sich seiner
Gesellschaft fuegt und stark geneigt ist, seine Ansichten,
Meinungen und Urteile denen seiner Mitmenschen anzupassen. Die
zweite dieser Grundlagen moechte man als aesthetisch bezeichnen,
insofern als gewisse Gedanken und Vorstellungen anziehend und
wuenschenswert erscheinen, ohne dass in gegebenem Falle die
einezelnen Beschaffenheiten dieser Anziehungskraft festzustellen
waeren.
Am buendigsten ist die dritte Grundlage der objektiven
Wahrheit ist deren Wirksamkeit, ist parktisch, pragmatisch und
instrumental. Die objektive Wahrheit bewirkt eine scheinbar
unendliche Erweiterung der Handlungsfaehigkeit des Menschen.
Beispielhaft ist hier die Wahrhaftigkeit einer Land- und Seekarte
welche dem Menschen die Reise ins anderweitig Unbelkannte
ueberhaupt erst moeglich macht. Dergleichen Wahrheit ist, wohl
bemerkt, stets provisorisch, insofern als sie, wie die
beispielhafte Landkarte mehr oder weniger genau ist, und
bestaendig verbesserungsbeduerftig, eine Approximation an eine
idelle Wahrheit; deren Gueltigkeit jedoch auf Genuegsamkeit
beruht, dass sie eben genau genug ist um zwecks bestimmter Zwecke
zu genuegen.
Jenseits der Uebereinstimmung mit anderen Menschen als
Kriterion objektiver Wahrheit ist die praktische Folgerichtigkeit
der Begriffe.
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