20020216.02

     Man darf nicht vergessen in welcher Eile, in welcher Hast
Kierkegaard seine Schriften verfasst hat. Buecher wie die
Nachschrift und Entweder-Oder, welche anderen Autoren drei,
sechs, zehn Jahren arbeit gekostet haetten, sind von Kierkegaard
innerhalb Monaten, wenn nicht gar Wochen geschrieben. Es ist
unmoeglich dass der Verfasser Zeit gehabt haette sie sorgfaeltig
zu redigieren, und die unvermeidlich sich einstellenden
Widersprueche und Ungereimtheiten zu berichtigen oder sie auch
nur wahrzunehmen.  Vielleicht machte er auch, bewusst oder
unbewusst, indem er dem Widerspruch eine so hohe Bedeutung
zumass, aus der Not eine Tugend.  Wahrscheinlich ruehrt die
Ueberzeugungskraft dieser Buecher zum Teil daher, dass sie dem
Unbewussten, dem Unterbewussten in fast vollendeter Form
entsprungen die Spontaneitaet des noch nicht ueberlegten, des
noch nicht bemaengelten, des noch nicht kritisierten zu Tage
bringen.  Das Ueberlegen, das Kritisieren, das Noergeln bleibt
dann uns ueberlassen. Desgleichen aber, by the same token, dass
ihre Unueberlegtheit bezaubert und ueberzeugt, muss sie uns auch
als hermeneutische Richtschnur dienen. Wir muessen erkennen, dass
vieles das wir bei Kierkegaard lesen, nicht durch komponiert,
nicht durchgruebelt, nicht, im eigentlichen Sinne, ueberdacht
ist; sondern dass alles, oder jedenfalls das meiste, so geboten
wird, wie es ihm einfiel, und dass demgemaess Widersprueche und
Ungereimtheiten nicht nur nicht verwunderlich sind, sondern dass
sie ein wesentliches Erbgut dieser Schriften bergen.  sondern
dass sie wesentlichen Inhalt dieser Schriften ausmachen.  Dass
diese Widersprueche Wahrheiten darstellen, welche der Natur des
menschlichen Denkens, des menschlichen Geistes entsprechen.
(Wenn ich mich des Ausdrucks "menschlichen Geistes" bediene, so
meine ich menschlichen Geist im Gegensatz zum Beispiel zum Geist
der Bienen oder Ameisen oder Eichhoernchen; denn ich betrachte es
als ueberheblich anzunehmen, dass es nur einen Geist gaebe und
dass dies der menschliche sein sollte.)

     Vielleicht ist die Folgerung dass Spontaneitaet die
Gueltigkeit verbuergt (inference from spontaneity to verity) eine
lehrreiche Beobachtung.  Vielleicht sollte ich mir die Lehre,
dass Spontaneitaet Wahrheit gebiert, zueigen machen.  Jedenfalls
hat die analytische Kritik des eigenen gedanklichen Erzeugnisses
seine Grenzen.  It appears that mind cannot lift itself by its
own bootstraps.

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