20020306.00

     Die Zeit geht mit den kleinen Schritten der Uhren neben
unserm eigentlichen Tag.  So etwa Rilke in einem der Sonnette an
Orpheus.  Des Einzelnen Bewusstsein der Gegenwart, - und was
waere unbewusste Gegenwart, - ist der eigentliche Tag, ist
ausserhalb der Zeit.  und darf nicht mit der Zeit verwechselt
werden.  Die Zeit ist ein unendliches Kontinuum, unendlich
dehnbar und unendlich teilbar.  Sie laesst sich messen, teilen,
verfielfaeltigen, addieren, multiplizieren.  Zeit ist den
Menschen gemeinsam, ist objektiv.  Die Gegenwart, hingegen, ist
individuell, sie ist die Gegenwart eines jeden Einzelnen.  Die
Gegenwart hat weder bestimmbare Teile noch hat sie bestimmbare
Grenzen.  Die Gegenwart hat Ausblick in Hinsicht auf Zukunft; die
Gegenwart hat Ausblick in Ruecksicht auf Vergangenheit.  Zukunft
und Vergangenheit sind in die Gegenwart einbegriffen, sind
Verhaeltnisse der Gegenwart.  Weder Zukunft noch Vergangenheit
ist der Gegenwart ebenbuertig.  Weder Zukunft noch Vergangenheit
ist der Gegenwart gleichzustellen.  Denn weder Zukunft noch
Vergangenheit vermoegen anders als vom Standpunkt, vom Erlebnis
der Gegenwart, vermoegen nur im Modus der Gegenwart, erreicht zu
werden.

     Die Gegenwart wird durch den jeweiligen Eindruck bestimmt.
Die bewusstwerdende Bestimmung der Gegenwart durch Eindruecke mag
als Erleben bezeichnet werden.

     Das Vergangenheitserlebnis ist der Erinnerung, ist dem
Erinnern nachgebildet.  (The experience of the past is modelled
on memory.)  Erinnerung ist das gegenwaertige Bewusstsein eines
Vergangenen.  Erinnerung ist stets gegenwaertig.

     Erwartung ist das gegenwaertige Bewusstsein der Zukunft, des
Kommenden.  Anders als in gegenwaertiger Erwartung ist die
Zukunft nicht zugaenglich, bleibt die Zukunft verschlossen.  Wir
vermoegen aus der Gegenwart weder in die Vergangenheit noch in
die Zukunft zu entkommen.

     Die Gegenwart ist durch den Eindruck bestimmt.  Der Eindruck
mag bestehen in dem Bilde, in der Landschaft welche mir jetzt in
die Augen faellt, mag eine Melodie sein, welche durch mein Gemuet
zieht, mag ein Gedicht sein welches in meinem Gedaechtnis
ertoent, mag meine eigene Rede, meine eigenen Worte sein, die von
meinen Lippen erschallen, mag eine erinnertes Gedankengebilde
sein, das gegenwaertig mein Denken beherrscht.

     Die Eindruecke wechseln rapide, so rapide wie die Bilder die
vor meinen Augen wechseln, so wie die Toene, die Worte, in meinen
Ohren, die Gedanken in meinem Gemuet.  Mein Gegenwartsbewusstsein
hat sein eigenes Zeitmass.  Zu schnell gesprochene Worte vermag
ich nicht zu verstehen, ein zu schnell entschwundenes
(projiziertes) Bild vermag ich nicht zu sehen, ueberschnell
gespielten Melodien vermag ich nicht zu folgen.  Aber meine
Gegenwartsbewusstsein hat auch seine aeusseren Grenzen, es vermag
nicht zu lange zu dauern (hinzuhalten).  Das Bild erlischt, wenn
es nicht immer aufs neue erblickt wird.  My view is extinguished
if it is not continually refreshed.  Das Wort muss fallen um
verstanden, der Ton muss verklingen um gehoert zu werden, und
sein Verklingen, seine Begrenzung ist ein Teil von ihm.

     Die Vergangenheit wird zu Geschichte, zu dem was (nur)
erzaehlt werden kann.  zu dem was ueberhaupt nur in der
Erzaehlung (noch) besteht, und was vielleicht nur in der
Geschichte je bestanden hat.  Auch die Zukunft wird zu einer Art
Geschichte, zu einer Voraussagung, zu einer Vorstellung wie es
sein wird, wie es erlebt werden wird, zu einer Antizipation,
Expectation, zur Erwartung meines zukuenftigen Tuns und Leidens.
Aber die Erzaehlung der Geschichte rueckt auch Vergangenes in die
Gegenwart.

     Die Gegenwart verschmilzt (blends) einerseits in die
Vergangenheit, andererseits in die Zukunft.  Ein solches
Verschmelzen ist angesichts eines beschraenkten
Gegenwartsvermoegens unvermeidlich.  Und die Vergangenheits und
Zukunftsdimensionen erweitern und verstaerken ihrerseits die
Gegenwart or scheinen dieses zu tun.  Zugleich aber wirken
Zukunft und Vergangenheit als von der Gegenwart ablenkend
(distracting from the present).

     Unter diesen Rubriken, unter diesem Schema, geschieht all
unser Denken; und all unser Denken, all unser geistiges Erleben
vermag auf Gegenwartsbewusstsein zurueckgefuehrt, und durch
dieses gedeutet zu werden.

     Es gibt eine spezioese Gegenwart welche in der Geschichte,
und in der von Geschichte ausgeloeste Vorstellung besteht.  Dies
ist die Gegenwart der Nachrichten, die ich ueber das Radio
erzaehlt hoere, ueber welche ich in der Zeitung lese.
Dergleichen Gegenwart ist tatsaechlich schon Geschichte und mag
als Abwandlung der Geschichte verstanden werden.  Das Hoeren
selbst, dass Lesen des Zeitungstextes, das Anschauuen der
Fernsehbilder, das sind authentische Gegenwartserlebnisse; aber
die vermeinte Wirklichkeit dessen was erzaehlt wird, ist
Geschichte.

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