20020417.00

     Ich behaupte dass der Mensch stets nur in der Gegenwart
lebt, dass auch die Vorstellungen die er Vergangenheit nennt
indem er sie wahrnimmt, ihm gegenwaertig sein muessen.  Es liegt
auf der Hand, dass die Zuziehung der Vergangenheit in die
Gegenwart, Zweideutigkeit stiftet, insofern es unbestimmt bleibt
ob man, wenn man nunmehr von Gegenwart spricht, jene Aspekte der
Gegenwart meint, welche Vergangenheit sind, oder jene Aspekte
welche nicht in der Vergangenheit sind.  Eine vergleichbare
Ueberlegung gilt auch fuer die Zukunft.

     Es sollte die Ungereimtheiten des naiven
Gegenwartsbewusstseins nicht durch eine Begriffgliederung ersetzt
werden welche selbst verwirrend ist.  Die Einsicht, dass die
Vergangenheit, so wie wir gewoehnlich ueber sie denken, eine
gegenwaertige Vorstellung ist, ist ueberaus sinnvoll.  Ihr muss
eine zweite Einsicht angegliedert werden, dass die Gegenwart, so
wie wir gewoehnlich von ihr denken auch eine gegenwaertige
Vorstellung ist, und schliesslich muss ihr eine dritte Einsicht
angegliedert werden, dass die Zukunft, so wie wir gewoehnlich von
ihr denken auch eine gegenwaertige Vorstellung ist,

     Augenscheinlich bedienen wir uns des Ausdrucks Gegenwart in
zweifacher Weise die man auseinanderhalten sollte.  In einem
Sinne steht Gegenwart mit Vergangenheit und Zukunft sprachlich
(logisch) auf gleicher Stufe.  So ist welche Dreiteilung unserer
Vorstellungswelt in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft
begruendet.  In einem anderen Sinne aber ist die Gegenwart ueber
die Vergangenheit und ueber die Zukunft erhaben und auch ueber
die Gegenwart im ersten Sinne erhaben, weil sie alle drei in sich
schliesst.  Um die Ausdrucksverwirrung zu umgehen, belasse ich
nur in dem ersten Sinne der Gegenwart ihren Namen.  Was ich als
Gegenwart im zweiten Sinne bezweichnete, mag dadurch
unterschieden werden, dass ich es statt Gegenwart, Anwesenheit
nenne.

     Um das neue Begriffsschema zu wiederholen: Die
Vergangenheit, die Gegenwart, die Zukunft sind alle drei
anwesende Vorstellungen, sind Vorstellungsweisen in der
Anwesenheit.  Es gilt nun sie von einander zu unterscheiden.

     Als erste Begriffbestimmung schlage ich versuchsweise vor
all das als Gegenwart zu benennen was fortbesteht, und/oder sich
in seinem Fortbestehen wiederholt.  Als Vergangenheit, all das
was unwiederbringlich geschehen ist; und als Zukunft, das
Nochnichtgeschehene, das in der Erwartung liegt.

     In diesem Sinne ist das Aufgehen der Sonne ist das
morgendliche Lichtwerden des Himmels ein Gegenwaertiges nicht nur
insofern es im Geschehen ist, indessen sich die Scheibe der Sonne
ueber dem Meeresspiegel oder ueber den Gipfeln der Berge erhoeht.
Gegenwaertig ist das Aufgehen der Sonne auch insofern es sich
alltaeglich wiederholt.

     Vergangen aber ist das Aufgehen der Sonne als einmaliges,
insofern die Sonne nun schon hoch am Himmel steht; insofern das
Gefuege der Wolken, des Meeresgewelles, die Gestalt der Wipfel
hinter denen die Sonne erschien einmalig war und nicht
wiederkehren wird.

     Die Unterscheidung zwischen Vergangenheit, Gegenwart (? und
Zukunft) liegt also nicht in dem Geschehen, sondern in meinem
Erlebnis des Geschehens.  Man mag es als psychologisches,
psychisches, geistiges Phaenomen betrachten.

     Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind wirklich in der
Anwesenheit der Vorstellungen in welchen sie erscheinen.
Vergangenheit ist die Vorstellung des Geschehens als
Nichtwiederkehrendem.  Zukunft ist die Vorstellung des Geschehens
als Nochnichtgeschehenem.  Gegenwart ist die Vorstellung des
Geschehens als (unveraendert) Bestehendem.  Denn es ist ja eine
unausweichliche Tatsache, dass wir uns in der Unterscheidung, in
der Abgrenzung von Gegenwart und Vergangenheit auf die Zeit nicht
verlassen koennen.  Genau betrachtet ist jedes Geschehnis das wir
wahrnehmen in einer arithmetischen Vergangenheit.

     Die Demonstration dieser Tatsache, dass genau betrachtet
jedes wahrgenommene Geschehnis in einer arithmetischen
Vergangenheit geschah ist einfach.  Ein sehr laut gesprochenes
Wort (laut wie ein Knall) bewirkt zuerst ein Zucken der Glieder,
bewirkt zu zweit den Laut im Gehoer, bewirkt zu dritt das
verstandene Wort.  Der Abstand zwischen dem Zucken der Glieder,
dem Vernehmen des Lautes, und dem Verstaendnis des Gehoerten ist
leicht zu beobachten, und beweist dass das Zucken, das Vernehmen
und das Verstehen nicht in gleichem Momemente geschehen, und es
laesst sich schliessen, dass, in Betreff auf das Verstehen, die
Ausloesung, das Aufzucken, das Vernehmen verschiedene Momente der
Vergangenheit bezeichnen.

     Ein anderes Beispiel: Ich lese ein Buch.  In Bezug auf ein
jedes gedruckte Wort, gibt es einen Moment in welchem ich es
nocht nicht gesehen, gelesen, verstanden habe; augenblicklich
danach habe ich dass erste Wort begriffen.  Es gibt einen zweiten
Moment in welchem ich ein zweites Wort noch nicht gesehen,
gelesen, verstanden habe; Wenn ich das zweite Wort verstehe,
liegt die Wahrnehmung des ersten Wortes in der Vergangenheit, und
auch das Lesen des zweiten Wortes liegt in der Vergangenheit, so
dass alles dessen ich mir bewusst werde in der Vergangenheit
liegt: und dass diese Vergangenheit keineswegs unerreichbar ist,
sondern die fortwaehrende Wahrnehmung und das fortwaehrende
Verstehen beeinflusst und praegt.

     Es liegen also in der Konstatierung der Vergangenheit
Widersprueche welche sich durch die begriffliche Analyse zwar
praezisieren und definieren, aber nie aufklaeren oder beseitigen
lassen.

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