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20050625.00
Gestern nachmittag hatte ich Gelegenheit einmal wieder
die ersten fuenfzig Seiten etwa, von Kants Grundlegung zur
Metaphysik der Sitten zu lesen. Ich erfuellte meine Pflicht
sorgfaeltig, sittsam, jenem kategorischen Imperativ gehorchend,
der mir befiehlt jede Schrift zu lesen als sei sie die Heilige.
Somit handelte ich nach derjenigen Maxime durch die ich zugleich
wollen konnte, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.
Die Exegese der Schriften Kants mag als die aeusserste
(the ultimate) in der Hierarchie von literarischen Lehrlings-
pruefungen gelten, jene erhabene Stufe auf welcher der Unverstand
des Lehrlings ihm zum Schicksal wird und er sich entweder als
verlogen oder zumindest als laecherlich entpuppt, oder aber wo
seine Virtuositaet sich in ueppigster Bluete zu entfalten vermag.
Denn Kants Schriften sind verstaendlich nur, entweder
a) als Blendwerk, b) als Wahnsinn, oder c) als Dichtung, als
Poesie. Die ersten beiden, Blendwerk oder Wahnsinn waeren
auch vertretbar, aber nicht hier und jetzt von mir. Doch die
letzte, die Deutung der Kantschen Schriften als reine Dichtung
duenkt mich am eintraeglichsten, und es ist diese welche ich
vorschlage. Das Hoechste waere zu begreifen, dass alles Faktische
schon Theorie ist; ein wenig hoeher noch die Einsicht, dass alle
Theorie nur Dichtung, oder wenn man will, nur Hirngespinst ist.
Am allerhoechsten aber zu verstehen, dass Blendwerk, Wahnsinn,
und Dichtung in einander schmelzen, und dass mein Gehirn der Tiegel
ist in welchem dies geschieht. Und was von Immanuel Kant gilt, das
moechte auch von Karl Friedrich Gauss gelten, und warum nicht auch
von mir?
Um aber zur Sache zurueckzukehren, um so sachlich zu
sein, wie es sich in einer so heiklen Angelegenheit ziemt:
Kants Schriften werden verstaendlich, sind alle erklaerlich
sobald man die Einrichtungen die er benamst, und denen er so
grosse Bedeutung zumisst, die Vernunft, die reine Vernunft,
der Verstand, die Anschauung, die Natur, die Freiheit, die
Physik, die empirische Philosophie, die reine Philosophie
die Ethik, die Logik, die Metaphysik der Natur, die Metaphysik
der Sitten, die praktische Anthropologie, die Moral, der
kategorische Imperativ, der hypothetische Imperativ, dass all
diese Worte nicht nur keine objektiven Gegenstaende bezeichnen,
dass sie nicht einmal Begriffe von gehoeriger Begrenztheit,
Bestaendigkeit, Eindeutigkeit und Verlaesslichkeit sind,
sondern dass all diese Worte kaum mehr sind als nur eben Worte,
mittels deren Kant beansprucht uns seine Anschauung, sein Erleben,
sein Verstaendnis mitzuteilen, wie dieses Erleben sich im Verlauf
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von Monaten und Jahren entwickelt und bewaehrt hat. Die
Angelegenheit wird interessanter und verwickelter, insofern
es sich nicht um die Darstellung eines gewoehlichen Lebenslaufes
handelt. Was hier offenbart wird sind nicht die Gedanken eines
Bauern, eines Handwerkers, eines Kaufmanns, eines Arztes oder
Rechtsverstaendigen, zum Beispiel. Was hier erscheint ist das
Denken eines Dichters der vom Dingen an sich erzaehlt, wie andere
Dichter von Engeln und Teufeln, von Lust und Liebe singt, von
Pflanzen und Tieren und Menschen, von Helden und Goettern, die
es gibt und die es nicht gibt. Darueber hinaus ist das Denken,
das in den Kantschen Schriften verraten wird, ein rekursives:
es sind Gedanken ueber das Denken, wenn nicht gar Gedanken ueber
das Denken ueber das Denken, und so fort ins Unendliche;
ungezaehlte Male (qualvoll) wiederholt, bis zur Unverstaendlichkeit
verfeinert.
Die Deutung, die Interpretation einer solchen Schrift
wird dann unvermeidlicher Weise zu einem Zurueckverfolgen
(retracement) der Komposition auf ihren Ursprung, auf ihre
Quelle im Erleben. Bei einem solchen Aufspueren wirkt die
Verzweigung und Verschachtelung der Begriffe unvermeidlich
als Ablenkung, wenn nicht gar als Hindernis; und man muss
die mehr unwesentlichen und belanglosen Begriffe ignorieren,
aus Berechnung uebergehen. Das Erleben welches man als den Kern
der Kantschen Gedanken auffindet ist dann vermutlich das
allgemein menschliche, das im Grunde jedermann, und ich selber
ins besondere, mit Kant teile. In _meinen_ Gedanken und
in meinen Aufzeichnungen findet es einen anderen, meinem
Geiste angemessenen Ausdruck. In dieser Perspektive ist die
Hermeneutik ein Uebersetzen des Erlebten aus der Sprache des
einen in die Sprache des anderen.
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