Lieber Marco, Bitte entschuldigen Sie, dass ich Ihren Brief so umgehend beantworte. Bin beschämt mich Ihnen scheinbar aufzudrängen. Das ist keineswegs der Fall. Ich schreibe während Ihr Brief in meinem Gedächtnis lebendig ist. Dies Gedächtnis, fast siebenundachtig (87) Jahre alt, ist löcherig wie ein Sieb; in zwei Stunden wird's schon wieder leer sein. Also nicht "carpe diem" sondern "carpe horam." Der Wirtschaftlichkeit halber, sofort. Auf Englisch: Make hay while the sun shines. Und eh Sie mir antworten, erwägen Sie ob's nicht interessanter, erbaulicher ist aus dem Fenster zu schauen wo die Voralpenlandschaft sich Ihnen im 100 Stundenkilometer Tempo abwickelt. Ich betone wie stets: Keine Antwort erforderlich! Zu Ihrer Beschreibung in Ihrem vorigen Brief von Ihrer Lehrer abfälligen Kritik an Ihrem Schulschreiben, erlauben Sie mir zu bemerken: Das war der Lehrer Pech, dass die Lehrer nicht zu lesen verstanden, und dass die Lehrer meinten des Schülers Denken und Fühlen in ein Zwangsjackett einschnüren zu sollen, eine Beengung die der Schüler nicht ertragen konnte und mit Recht nicht ertragen wollte. Ich erinnere aus Goethes Faust: "Mein teurer Freund, ich rat Euch drum Zuerst Collegium Logicum. Da wird der Geist Euch wohl dressiert, In spanische Stiefeln eingeschnürt, Daß er bedächtiger so fortan Hinschleiche die Gedankenbahn, Und nicht etwa, die Kreuz und Quer, Irrlichteliere hin und her." Mit Ihren Betrachtungen über mein bevorzugtes Leben als Pensionist haben Sie recht. Ich bin sehr dankbar für die Gelegenheit, für die Freiheit die ich jetzt genieße, zu schreiben was und wie ich will. Habe keinen Grund mich zu beklagen und beklage mich nicht. Ob ich die mir noch bleibenden,gezählten Tage in sinnvoller Weise verwende, weiß ich nicht; denn mein Schreiben macht mich weder noch wohlhabender als ich schon bin noch schmälert es die bereits unbeträchtliche Unbedeutsamkeit meiner Person. Es ist mein Enkel Nathaniel der als Dirigent bekannt, berühmt werden will, und ich stelle mir vor, wenn ihm der Ruhm gelingt, dann kann er sich vielleicht sogar noch etwas Taschengeld mit der Veröffentlichung meiner Schreiberein besorgen; es wäre ein huckepack Ruhm den ich posthum genösse, denn viele Leute würden sich für das Opus des Großvaters von Wilhelm Furtwängler II interessieren. Betreffs des Tods, ob in Kritzendorf, Belmont oder Venedig, verlasse ich mich auf Rilke der schrieb: Der Tod ist groß. Wir sind die Seinen lachenden Munds. Wenn wir uns mitten im Leben meinen, wagt er zu weinen mitten in uns. Thomas Manns erdichteter Gustav von Aschenbach aber war ein renommierter Künstler der einen Liebestod erlebte. Hatte sich zur "Erholung" nach Venedig begeben und starb an seiner tödlichen Liebe für Tadzio, einen aus Polen hinzugereisten Knaben der vor den Augen des sehnsüchtigen Aschenbach am Adriastrande spielte. Nun, an der Liebe zu einem Knaben werde ich keineswegs verwelken, nicht einmal an der Liebe zu einer schönen jungen Frau. Es wäre der "reinste" Zufall. Aber Rilke wusste, der Tod weint in "uns", ein Kollektiv das auch mich einbeschließt, obgleich ich mir das Lachen längst abgewöhnt habe. Themen für mögliche Sonette wie ich heute Morgen notierte: Kreuzigung in Oberammergau, Überleben im Bärengefilde, Einfädeln, Reise mit Krankenschwester. Wer weiß was daraus wird? Wenn Sie neugierig sind mögen Sie betreffs meines Seelenzustands auf dem Laufenden bleiben, mit den letzten Eintragungen zu http://home.earthlink.net/~ej4meyer/20151120_Sonnets01.pdf Voraussagen über das inwendige Reisewetter in einem künftigen Brief. Inzwischen wünsche ich Ihnen beiden alles Gute und grüße Sie beide. Jochen PS Shakespeare beschloss seinen King Lear mit Folgendem: The weight of this sad time we must obey; Speak what we feel, not what we ought to say. The oldest hath borne most: we that are young Shall never see so much, nor live so long. Exeunt, with a dead march