Tue Jan 31 21:17:21 EST 2017 NICHT ABGESANDT Liebe Cristina, hab heute den ganzen Tag geschrieben. Das zwangsmäßige Denken an Dich will ich nicht leugnen. Aber für mich keine Besonderheit. Mein Denken ist nicht selten zwangsmäßig an entfernte Personen gerichtet mit denen ich vorgestellten Gedankenaustausch pflege. Dass es sich nicht um Gegenseitiges handeln kann ist selbstverständlich. Für ein solches quasi irres Betragen meinerseits ist der Briefspeicher an meinem Netzort im Internet die angemessene Lösung; denn wenn Du dich langweilst, macht die Speicherung Dir meine literarischen Ergüsse zugänglich; zu gleicher Zeit aber schützt Dich die Speicherung vor der Zudringlichkeit meines Gemüts wenn Du Bedürfnis fühlst ein normales Geistesleben zu genießen. Habe in den vergangenen paar Tagen viel Mühe meiner anschwellenden chronologisch geordneten Sonettensammlung gewidmet, http://home.earthlink.net/~ej4meyer/20151120_Sonnets01.pdf und bin mir lebhaft bewusst wie entschieden meine spröden Eltern diese jüngsten naturalistisch gerichteten Gedichte als geschmacklos, als unanständig, als obszön verworfen hätten. Das Unrecht, die Schande, die Sünde, eine weibliche "schöne Seele" wie die Deine damit zu beschmutzen, hätten sie mir nicht verziehen. Meinerseits empfinde ich die senile Umdeutung der Weihnachtsgeschichte als unendlich befreiende Überwindung einer zweitausend Jahr alten Lüge. Es ist mühsam und beschwerlich, nimmt viel Zeit und Kraft in Anspruch zu lernen was es bedeutet alt zu sein, ins Besondere ein alter Mann. Habe in den vergangenen paar Wochen, spät abends wenn ich zum Schreiben zu müde war, mir wiederholt Videoübertragungen von Aufführungen des Weihnachtsoratoriums angehört und angesehen, Darstellungen in welche zwecks blöder Abwechslung, mittelalterliche, Renaissance, und Barockgemälde der "Heiligen Familie"eingeschoben wurden; bis mir eines Abends klar wurde, wieviel, was systematisch von der Musik vertuscht wurde, ich von diesen Malereien zu lernen hatte. Denn sie alle ohne Ausnahme zeigten des Heilands Stiefvater Joseph als einen ergrauten, manchmal kahlköpfigen alten Mann wie ich einer bin, mit sehr fragwürdiger Zeugungskraft, und seine bescheidene mit mohammedanischer Zucht fast völlig verhüllte Braut, die junge neue Mutter als liebliches begehrenswertes Weib. Seelenselbstbildnisse ungezählter graphischer Künstler, Bilder die mir im Stegreif eine Umdichtung des Textes der heiligen Sterbenskantate Nr. 82 nahe legten. Anstatt Ich habe genug, Ich habe den Heiland, das Hoffen der Frommen, Auf meine begierigen Arme genommen; Ich habe genug! Ich hab ihn erblickt, Mein Glaube hat Jesum ans Herze gedrückt; Nun wünsch ich, noch heute mit Freuden Von hinnen zu scheiden. wäre es nicht wahrheitsgetreuer stattdessen zu schreiben und zu singen: Ich habe genug, Ich habe Maria, die Sehnsucht der Frommen, In meine begierigen Arme genommen; Ich habe genug! Ich hab sie erblickt, Mein Glaub' hat Maria ans Herze gedrückt; Nun wünsch ich, noch heute mit Freuden Von hinnen zu scheiden. Und das Kind! Erbärmlich, verlassen, schon in der Krippe verstoßen; von Eseln und Kühen beschnüffelt statt an der Mutter Brust geherzt, verfrühte Ahnung von Gethsemane-Verlassenheit in der Krippe. Der Heiligenschein umsonst, hilft nicht. Weder Mutter noch Vater wissen was mit ihm anzufangen; die Ochsen noch weniger. Und die absurden Geschenke der Morgenlandweisen: Gold, Weihrauch, Myrrhen! Vorläufer von zwei tausend Jahren sinnwidriger Weihnachtsgeschenke! Was, in Gottes Namen, soll der Säugling damit anfangen! Aber der Sehnsucht des Mannes der so lange auf diese Frau gewartet, der sich so sehr nach ihr gesehnt, der so viel um sie gelitten hat. Von dieser Sehnsucht darf kein Dichter, kein Tonsetzer, kein Maler erzählen, obgleich sie alle, wenn sie es sich nur einen Augenblick erlaubten zur Besinnung zu kommen, es wüssten. Liebe Cristina, Wenn Du bis hier dies alles gelesen und ertragen hast, gebührt Dir eine Humor-Auszeichnung wie Du schon so viele Musik Auszeichnungen für Dein Cellospiel geerntet hast. Schlaf gut! Ich wünsche Dir Gute Nacht. Dein Jochen