Wed Feb 1 00:02:35 EST 2017 NICHT ABGESANDT Liebe Cristina, Dies ist der dritte Speicherbrief. Ob ich ihn heute abend fertig schreibe, weiß ich noch nicht, vielleicht wenn ich nicht zu müde werde. Die Themen welche Du in Deinem letzten Brief anschnittest beeindrucken mich als von weitreichender Bedeutung. Du schriebst: ===================== "Wahrscheinlich ist das Verständnis des Göttlichen ähnlich dem Verständnis der Musik, der Poesie und der Mathematik. Ähnlich dem Verständnis der Wahrheit." "Man kann Musik wie auch Poesie verstehen ohne sie zu analysieren." "Wahrscheinlich kann man sie auch schreiben ohne sie im Voraus zu planen. Dann aber frage ich mich, wie entsteht die Struktur? Bezogen auf die Poesie wie auch auf die Musik. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Gedanken oder Träumen und dem Niedergeschriebenen ist doch dass das Geschriebene strukturiert ist. Es hat Form. Die Form ist eine Architektur. Siehst du, da ist die Mathematik wieder." "Ich möchte Nathaniel ungern erwähnen in unserer Korrespondenz, da wir ja ausgemacht haben, unsere Beziehung ist unabhängig von dieser zwischen mir und Nathaniel. Doch muss ich gerade an ihn denken, wenn ich schreibe, dass wenn die Form fehlt, wenn das gewissenhafte Verständnis fehlt oder nicht genug präsent ist, wenn die Logik im Kopf die Emotion im Herz nicht ausbalanciert, dann leben wir im Traum und in der Theorie. Gute Musiker wissen die Musik auszudrücken und ihren Mitmenschen verständlich zu machen. Das bedeutet Sprache. Gute Komponisten wissen ihre Musik Takten und Metren unterzuordnen, sie geben ihr Bezeichnungen, je moderner der Komponist, desto genauere Bezeichnungen und Bestimmungen, wie wir seine Musik zu interpretieren haben, desto mehr Metrum- und Tempoänderungen schreibt er nieder. Demnach ist Johann Sebastian Bach ein sehr poetischer Komponist, er lässt unserer Fantasie und Interpretation Spielraum. Trotzdem fehlt es auch in der Bachschen Poesie nicht an Form. Ich habe einmal mit einem Freund diskutiert ob Glenn Gould Bach auf poetische oder mathematische Weise spielt. Wir sind zu keinem Entschluss gekommen." "In keiner Poesie fehlt es an Form und Geometrie. Auch nicht an der göttlichen. Ich stelle mir nämlich das ganze Universum, von dem wir nicht einmal wissen, wie groß es wirklich ist und ob es endlich ist- wahrscheinlich nicht- als die göttliche Poesie vor. Und in dieser riesigen Poesie existieren viele Gedichte, die Gedichte bestehen aus Phrasen, die Phrasen aus Worten, die Worte aus Buchstaben, die Buchstaben aus Strichen, die Striche aus Punkten. Wahrscheinlich gehören die Menschen zu den Punkten." "Aber all dies, die Phrasen, die Buchstaben, ja sogar die Punkte haben Seelen und sind lebendig. Lebendig auf ihre eigenen Weisen." "Den Gedanken, den ich zum Ausdruck bringen will, oder besser gesagt die Frage, die ich mir stelle ist: Sind Musik und Poesie nicht genauso Sprachen wie die Mathematik? Ist in der poetischen Sprache nicht genauso viel Mathematik enthalten wie Poesie in der mathematischen? In der musikalischen Sprache genauso viel Poesie wie Musik in der poetischen? Ja sogar in der mathematischen Sprache soviel Musik enthalten wie Mathematik in der musikalischen?" "So lautet meine junge Philosophie, die sich so flüchtig und kurzfristig in meinen Gedanken gebildet hat, und sich innerhalb der nächsten Minuten wahrscheinlich ändern wird: Es gibt eine einzige Wahrheit, die auf verschiedene Weisen interpretiert werden kann, aber nie absolut ausgesprochen werden kann. Sie existiert in der Welt, im Universum, in den Künsten, in der Wissenschaft, überall, vor allem in uns, in unserem Wesen. Wir kennen sie, wir fühlen sie, manchmal verstehen wir sie, wir glauben an sie, nein, wir wissen an sie. Und doch können wir sie nicht nennen. Können wir nicht oder dürfen wir nicht?" ================ Liebe Cristina, Indem ich die obigen (diese nicht-theologischen) Auszüge aus Deinem Briefe überlese, immer und immer wieder überlese, beschleicht mich die Unbestimmtheit ob ich vielleicht ein Narr bin, denn ich kann den Gedanken nicht abtun, dass ich ein Gedicht lese, ein großes wunderbares geheimnisvolles Gedicht, in dem Dein Geist, Dein Gemüt sich spiegelt, ein Kunstwerk vergleichbar vielleicht mit einer Hymne von Hölderlin, ein Kunstwerk das nicht analysiert, das nicht beschrieben zu werden vermag, das ich mit meinen Gedankenpfoten nicht anrühren will, nicht anrühren darf; das wie jedes wirkliche Kunstwerk, beansprucht unabgeändert, unkommentiert, erlebt zu werden. Die einzige Antwort zu der ich fähig bin, ist Dir meine Gedanken zu den Themen die Du erörterst vorzuführen, mit dem Vorverständnis dass diese meine Gedanken was Du schreibst, was Du denkst, was Du bist, nicht erreichen können. Mein Erleben ist spezifisch. Auch das Allgemeine und der Vorgang der Verallgemeinerung daraus das Allgemeine entsteht erlebe ich als spezifische Worte, als abgesonderte oder absonderbare bestimmbare Gedanken. Die umfassende Spezifizierung der Geisteswelt in der ich lebe erscheint mir als eine übermenschliche Aufgabe der ich nicht gewachsen bin. Dennoch muss ich immer wieder und überall wo ich mich zufällig befinde, den Anfang machen. Betrachte mich als ein kleines dummes Kind am Strande des Weltenmeeres das sich in den Kopf gesetzt hat, es vermöchte zu erkennen was die Welt im Innersten zusammenhält indem es die Körnlein Sand unter seinen Fingernägeln eins nach dem andern mit größter Gewissenhaftigkeit studiert. Es ist ein Uhr morgens in der Nacht, und ich will schlafen gehn. Morgen früh, nachdem ich mit der Schneeschleuder die Einfahrten und die Fußwege von 166, 174, und 178 School Street vom Schnee bereinigt habe, schreibe ich Dir einen neuen Brief. Dein Jochen