Liebe Cristina, Heute Morgen ist es wolkig. Weniger Schnee ist gefallen als man vorausgesagt hatte, anscheinend kaum mehr als 2 Zentimeter, und ich werde ihn erst später entfernen, wenn überhaupt. Will versuchen mit meinem Brief fortzufahren wo ich gestern Nacht unterbrach. Der Zwang zum Spezifischen der mich beseelt, begeistert, oder vielleicht verleitet, bezieht sich a) auf das Sprechen, und b) auf das Erleben. Was mein Sprechen anbelangt, so scheue ich mich vor den großen Worten wie Geschichte, Naturwissenschaften, Geisteswissenschaften, Philosophie, Dichtung, Musik ... Musik wie ich sie erlebe ist das Lied in meiner Kehle, die Fuge im inwendigen Ohr, die Begeisterung des Dirigenten auf seinem Podium, die Schönheit der Melodie welche dem Instrument entströmt. Und Dichtung ist der Sinn (oder Unsinn) der Sonettenzeile die ich beim Lesen oder Schreiben zu begreifen versuche. Mathematik ist das Zusammenzählen einer gegebenen Zahlenreihe; Geometrie, das Vermessen eines besonderen Kreises oder Dreiecks. - In meinem Ablehnen der Verallgemeinerung mag ich mich irren, aber Du weißt was ich meine. Was nun das Erleben anbelangt, so meine ich im Jetzt und im Hier zu bestehen und zu vergehen. Da hilft mir weder mathematische Theorie noch geometrische Technik. Mir bleibt nichts übrig als mich auf mein Bewusstsein zu verlassen so wie dieses Bewusstsein sich im Laufe von Stunden, Tagen, Monaten und Jahren gebildet hat. Es besteht für mich kein Zweifel, dass dies Bewusstsein physischen, physikalischen, biochemischen, neurologischen Equivalenzen gleichgesetzt zu werden vermag; dass aber solche Gleichsetzungen niemals begründend zu sein vermöchten, weil sie sich nur durch das Bewusstsein, also genau durch das was sie zu begründen versuchten, ermitteln ließen. Liebe Cristina, entschuldige bitte die schwerfällige, umständliche akademische Darstellung. In meinen Sonetten über die Gegenwart, über ihren Schatten die Vergangenheit, und über ihren Schein die Zukunft, so auch über der Gegenwart Spiegelbild, die Zeitlosigkeit, i.e. die Ewigkeit, hab ich versucht mein Erleben zum Ausdruck zu bringen. Ich zweifle dass es mir gelungen ist. Ich bin Dir dankbar für die Gelegenheit mich Dir zu erklären. Nach dem Frühstück schreibe ich weiter. Dein Jochen