Am 1. Februar 2017 19:46 Liebe Cristina, Das bisschen Schnee hab ich geschaufelt. Die Frühstücksteller sind abgewaschen. Deinen Brief hab ich ein weiteres Mal gelesen und mein Urteil das ich Dir mitteilte hab ich bestätigt. Deine Frage: Woher und wie bekommt ein Musikstück,ein Gedicht, seine Struktur? ist möglicher Ausgangspunkt für mehrere unterschiedliche Erwägungen. Vielleicht ist es anmaßend von mir mein Denken darüber auch nur zu erwähnen. Deine Frage erinnerte mich an des Aristoteles Unterscheidung von Stoff ὕλη und Gestalt, letztere entweder als Bildung μορφή oder auch als Erscheinung εἶδος. Das sind Begriffe mit denen ich mich vor siebzig Jahren auseinandersetzte, heute längst im Nebel der Vergesslichkeit verschwommen. Damit ich, intellektueller Hochstapler der ich nun einmal bin, Dich weiterhin mit meiner Belesenheit für mich gewinnen könnte, nahm ich bei Wikipedia Zuflucht und fand mehrere Aufsätze mittels welcher ich mit oberflächlichem Zitieren als ungemeint gelehrt vor Dir erscheinen könnte. Diese Aufsätze sind: https://de.wikipedia.org/wiki/Formenlehre_(Musik) https://de.wikipedia.org/wiki/Materie_(Philosophie) https://de.wikipedia.org/wiki/Hylemorphismus https://de.wikipedia.org/wiki/Eidos https://de.wikipedia.org/wiki/Morphe Inbegriffen in Deine Frage wie ich sie verstehe, ist die Vorstellung dass der Künstler einen im Grunde formlosen Stoff mit einer Form prägt. Nimm's mir nicht übel; sei nicht böse; ärgere Dich nicht an mir, wenn ich schreibe, dass Stoff und Form ὕλη μορφή und εἶδος Begriffe sind die mir unmittelbar aus der Sprache auftauchen, in meinem eigenen Erleben jedoch nur mittelbar als unbestimmte und unbestimmbare Vorstellungen erscheinen. Ich würde gern einige meiner Sonetten vertonen, aber bis jetzt ist meine Selbstmacherei noch nicht zum musikalischen Komponieren vorgedrungen. Dazu ist es fast sicherlich zu spät. Aber mit dem Schreiben von Romanen, Sonetten und Briefen brüste ich mich seit manchen Jahren; und wie es sich dabei mit der Verwandlung von Stimmungen, Gefühlen und ungestalten Vermutungen in rhythmische und hoffentlich sinnvolle Gedichte und Geschichten verhält, kann ich aus unmittelbarem Erleben bezeugen. Die Quelle ist geräuschlos und unsichtbar. Der Gedanke ist plötzlich ganz einfach da! Erscheint vor mir oder neben mir wie ein ersehnter Freund oder wie eine ersehnte Freundin, wie auf Patmos: "Sie hören ihn und liebend tönt Es wider von den Klagen des Manns." Und wenn vom Schiffbruch oder klagend Um die Heimat oder Den abgeschiedenen Freund Ihr nahet einer Der Fremden, hört sie es gern, und ihre Kinder, Die Stimmen des heißen Hains, Und wo der Sand fällt, und sich spaltet Des Feldes Fläche, die Laute, Sie hören ihn und liebend tönt Es wider von den Klagen des Manns Dann ist es als wäre ich mit Dir im Gespräch, und meine Gedanken, meine Worte würden oder werden durch Deinen Geist (um)gestaltet bis Du sie verstündest. Form oder Struktur, μορφή und εἶδος, ergeben sich aus der Notwendigkeit des Verstandenwerden. Sich verständlich machen und Verstehen sind Ausdrücke der Erotik wie sie von Diotima in Platons Gastmahl gepredigt wird, eine Stufe der Vergesellschaftung von der aus das Inzesttabu wesenlos erscheint. Der Stoff ὕλη ist widerspenstig, unmitteilbar und will unverstanden bleiben. Die Form aber, μορφή und εἶδος, besonders εἶδος, entstehen im Verlauf des Idealisierens. Das Idealisieren ist nicht nur eine Neigung: es ist eine eingeborene Notwendigeit des Menschengeistes. Im Anhang zitiere ich über Idealisierung aus dem 4. Band meiner Romanserie “Vier Freunde.” Vielleicht nur Großtuerei die Du nicht zu lesen brauchst. Wenn Du Dich nicht an mir ärgerst bin ich Dir sehr dankbar. Dein Jochen * * * * * * Idealisierung "Ich möchte nun endlich mit einer Begriffsbestimmung den Anfang machen indem ich das Ideal als objektive Darstellung subjektiven Erlebens definiere. Subjektives Erleben ist seinem Wesen nach unbedingt. Hingegen sind die Erscheinungen der Welt unzähligen Bedingungen unterworden. Damit diese Welt in der ich lebe, zu meinem Zuhause zu werden vermag, muss sie mit der Unbedingtheit meines subjektiven Erlebnisses gefärbt werden, das heißt, sie muss idealisiert werden. Es ist das Bedürfnis, die Notwendigkeit in der Welt ein Zuhause zu bekommen, das mich zur Idealisierung zwingt. Die Idealisierung ist Vorbedingung für meine Erkenntnis und damit für meine Eingliederung in die Welt. Ein so großspuriger Vorschlag der alles auszusagen beansprucht ist vielleicht ausgerechnet deshalb, am Ende, nichtssagend." Katenus zögerte und dachte nach. Indessen wiederholte sich das Klopfen. "Am unmittelbarsten," fuhr Katenus fort, "und prototypisch für das Phänomen im Allgemeinen, betrachte ich die Idealisierung geometrischer Gestalten von der es mir vorstellbar ist, dass diese Idealisierung im Auge selbst geschieht. Die lichtempfindlichen Zellen der Netzhaut bedürfen einer gewissen Lichtschwelle um auf den optischen Reiz des Lichts überhaupt zu reagieren. Ist diese Lichtschwelle erreicht, so sehe ich einen Punkt, nichts weiter. Dies Phänomen der Idealisierung wird von der Erscheinung einer Lichtquelle bestätigt, welche ich in der Nähe als eine Fläche erkenne, die dann aber, indem ich mich von ihr entferne, abnehmend kleiner wird, bis zuletzt nichts übrig bleibt als die Wahrnehmung eines Reizes, bar jeglicher Gestalt und Ausdehnung. So etwa meine Vorstellung meines Erlebnisses von einem Punkt." "Paradoxerweise, dient der Punkt welcher selbst jeglicher Ausdehnung entbehrt, als Baustein der Ausdehnung. Aus unzähligen Punkten, erklären uns die Mathematiker, entsteht eine Linie, obgleich zwischen Punkt und Linie jegliche Beziehung fehlt. Die Verwandlung einer Reihe von Punkten zur Linie ist eine bedingungslose Veränderung, eine metabasis eis allo genos. Vergleichbar ist der Übergang von einer Reihe von Linien zur Fläche, und dann wiederum von der Fläche zum Körper von drei Dimensionen. Die forthschrittlichen Übergänge von Punkt, Linie und Fläche sind Muster der Idealisierung. In diesem Sinne behaupte ich dass unsere Umwelt wie sie sich uns von Augenblick zu Augenblick bietet, nichts anderes ist als eine Welt die aus epistemischen Idealen besteht. Es ist eine durchweg idealisierte Welt in der wir leben, eine Welt deren Gestalten sich auf Einfacheres, auf Geringeres nicht zurückführen, nicht reduzieren lässt, jedenfalls nicht ohne einen Übergang in einen anderen Bereich, ein Übergang, wohlbemerkt, der logisch jedenfalls nicht zu erklären ist." Jonathan hatte seinem Gastgeber pflichtbewusst zugehört, hatte versucht, wie jener, sich von dem beharrlichen Klopfen an der Tür nicht ablenken zu lassen. Er meinte nun etwas sinnvolles dazu sagen zu sollen, fand aber die möglichen Folgerungen so weitschweifend, dass er sich nicht getraute ihnen gerecht werden zu können. Was er über die Lippen zu bringen vermocht hätte wäre ihm stotterhaft erschienen. Deshalb schwieg er. Katenus aber bedurfte keiner Bestätigung, "Ich meine die Form im allgemeinen," fuhr er fort, "Ich meine Linie und Punkt ins besondere. Der Punkt ist die Fläche ohne Ausdehnung, der mindest wahrnehmbare Reiz im Auge und durch das Auge im Gemüt erzeugt. Die Punkte die wir erkennen liegen nicht in der Natur. Sie sind in unserem Auge, in unserem Gemüt, vom geringst wahrnehmbaren Reiz erzeugt. In der "Natur" gibt es keine Punkte. Gleichfalls hat die vom Auge erkannte Linie in der Natur keinen Bestand, oder ist jedenfalls von uns in der Natur nicht auffindbar. Sie ist eine ophthalmisch bewirkte Glättung einer holprigen Strecke. In der Natur gibt es keine glatten Strecken. In der Natur sind alle Strecken holprig. Punkt, Linie und Fläche sind sämtlich Ideale. Als solche sind sie ein Anfang, in der Erkenntnislehre wie in der Geometrie, der darauf hinweist, dass alle von uns erkannten Formen oder Gestalten von uns selbst geschaffen sind, geschaffen vom Individuum, aber auch unvermeidlich, durch die wunderbare Zusammenwirkung der Sprache, zugleich von uns allen, von der Gesellschaft geschaffen." "Ich muss es gestehen," sagte Katenus, jetzt mit abschließender Sicherheit, "Die Entidealisierung als der Gegensatz, als Widerrufung des Ideals, ist eine Zurücknahme, ist ein Abdanken vom geistigen Leben. Sie ist, wie mir scheint, die paradoxe Vervollständigung des Denkens das durch die Entidealisierung seine Nichtigkeit bezeugt. Zugleich aber, insofern mit seinem Denken der Denkende sein Fortbestehen beweist, ist die Entidealisierung ein neuer Anfang, vielleicht sogar die Vorbedingung zu weiterer geistiger Betätigung." "Wenn ich dich recht verstehe," sagte Jonathan, ist die Entidealisierung eine Brücke, über welche der Mensch den Weg von der Äußerlichkeit, von der Objektivität des gemeinsamen gemeinschaftlichen Wissens zurück in die Inwendigkeit, in die Subjektivität zu finden vermag." "Das hast du", erwiderte Katenus, "mit viel Klarheit ausgesprochen. Zu erfahren dass meine Gedanken doch von irgendjemand anders als mir selbst ernst genommen werden, ich verlange gar nicht dass man sie verstünde, aber lediglich gehört zu werden, ist mir Genugtuung. Freude wäre hier ein zu starker Ausdruck. Indem du darauf hinweist, dass Entidealisierung eine Brücke zum Einzelnen, zum Individuum ist, betonst du die Tatsache dass Entidealisierung niemals gesellschaftlich, niemals öffentlich, niemals objektiv oder wissenschaftlich werden kann; und du betonst wiederum die Tatsache, dass das Ideal in welcher Gestalt es uns auch erscheint, als Geistes oder als Naturwissenschaft, ein Gesellschaftsgebilde ist und bleiben muss. Das Ideal, welches der Einzelne in Abgetrenntheit von der Gesellschaft zu begreifen beansprucht, ist ein verhängnisvoller Irrtum. Das Sprechen nicht anders als das Denken welches es spiegelt, ist geläufiger Weise ein zweckmäßiger Vorgang welche das Verhältnis zum anderen Menschen richtet und welche die Welt des Menschen organisiert. Das Denken um seiner selbst willen, die Sprache als Selbstzweck ist Spiel, durchaus vergleichbar mit dem Spiel der Kinder, sinnlos und wiederum auch sinnvoll in ähnlicher Weise." "Ich bin mir durchaus bewusst," fuhr Katenus fort, "dass ich die Sprache in die Zügel schießen lasse: sie reißt mit meinem Denken, mit meinen Gedanken aus. Die Sprache vor allem ist das Reich der Idealisierung; und Entidealisierung besagt die Zurücknahme der Sprache. Die Entidealisierung als Zurücknahme eines geistigen Gebildes weist auf einen dialektischen geistigen Vorgang. Es ist möglich die gesamte Wissenschaft, die Geisteswissenschaft so wie auch die Naturwissenschaft als Idealisierung der Wirklichkeit, des Wirklichkeitserlebnisses zu erklären. Mit der Idealisierung wird die Wirklichkeit erst verschleiert, bis sie zuletzt gänzlich verborgen ist. Demgemäß erscheint die Entidealisierung als unentbehrliches Instrument die Wirklichkeit zu entschleiern, und sie somit zu offenbaren. Wenn ich ihn recht verstehe, war Kierkegaards Protest gegen das Welt-Historische, ein Aufruf eigenster Art zu geistig-seelischer Wirklichkeit mittels der Entidealisierung. Die Idealisierung ist ein selbstverständlicher durch die Gesellschaft geförderter wenn nicht gar überhaupt erst ermöglichter Vorgang. Die Entidealisierung hingegen ist unvermeidlich individuell, ist, in Summa, Zurücknahme des Verhältnisses des Einzelnen zu einer gedeuteten Welt in welcher er zu versickern und zu versinken droht." Nach diesen Ausführungen schwieg Katenus, und es war unbestimmt ob seine Besucher ihn verstanden hatten. Zuletzt antwortete Joachim, "Deine Ausführungen über Idealisierung erinnern mich an Das Glasperlenspiel." Katenusens Züge wurden belebt. "Genau; du hast es gut verstanden," sagte er, "Aber mit diesem Unterschied: Hesses Glasperlenspiel war das Vorhaben einer Elite, einer besonderen, einer ausgesuchten Gruppe von Menschen. Das Denken aber das mich beschäftigt liegt im Bereich der Menschheit im Allgemeinen. Mein Versuch es zu beschreiben und zu zergliedern beansprucht auf jedermann's Denken gemünzt zu sein." "Ach du guter einfältiger Katenus, wie rührend einfach ist nicht dein Anspruch dein eigenstes Denken mit dem von jedermann gleichzustellen." Es war Elly's Stimme die Katenusens Monolog unterbrach. "Du entdeckst, du erfindest die raffiniertesten Gedanken, und meinst nicht nur, dass sie jedermann zugänglich wären, sondern sogar dass jedermann ihrer fähig wäre, dass jedermann sie zu entdecken vermöchte."