Thu Feb 2 18:17:24 EST 2017 Liebe Cristina, Beim Schreiben meines jüngsten Briefes an Dich hab ich's auf Eindringlichste entdeckt: der Wunsch, die Not sich mitzuteilen ist ihrem Wesen gemäß erotisch, in jenem erhabenen Sinne des Wortes Ἔρως den Platon seiner Diotima (im Gastmahl (Symposium)) in den Mund legt. Das Bedürfnis sich mitzuteilen kommt nicht nur in ungezügeltem Reden, es kommt auch im Schreiben von Briefen, von Romanen, von Gedichten zum Ausdruck. Und Du, der Du dem Erklingen Deines Cello so viel Mühe schenkst, weißt aus eigenstem Erleben, dass Du von Deinem Bedürfnis Dich mitzuteilen überwältigt bist in einem Maße das in unablässlichem Üben und Vortragen von Musik zum Ausdruck kommt. Du fragst mich in Deinem letzten Brief nach der Beziehung von Musik und Mathematik. Wie ernst ich diese Frage nehme ergibt sich aus der Tatsache dass ich letzte Nacht lange Zeit - mir schien es stundenlang - im Halbwachen - oder im Halbtraum - darüber nachgedacht, und nun das Bedürfnis habe meine Überlegungen zu beurkunden eh ich sie völlig vergesse. Im Anfang, wie stets, ist das Wort. Was meinen wir wenn wir Musik sagen? Den Kuhreigen? den Lerchengesang? den Glockenklang? das Wiegenlied? den Chor? die Sonate? die Symphonie? das Komponieren? Die Aufführung? Den Widerhall? oder (nur) die Erinnerung, das Verständnis von all diesem? Ist der Vorschlag Musik möchte die Mathematik, die Rechenkunst der Seele sein, sinnvoll oder nur verwirrend oder gar albern? Und was heißt Mathematik? Das Zählen des Atmung, des Herzschlags, der Schritte, der Minuten, der Tage, der Wochen Monate Jahre? das Addieren, Subtrahieren, Multiplizieren und Teilen? Das Aufsetzen und Lösen algebräischer Gleichungen; die Differential- und Integral Rechnung; die Topologie; die Statistik? Ist der Vorschlag Mathematik möchte die Musik des Intellekts sein, mehr als leeres Spiel mit Worten? Wer würde behaupten dass, die Preludien und Fugen des Wohltemperierten Klaviers etwas anderes wären als gelöste musikalische Rechenaufgaben. Vergleichbares möchte man vom Musikalischen Opfer, von den Goldberg Variationen, von der Kunst der Fuge behaupten. Und doch war Bach kein Mathematiker; und Karl Friedrich Gauß war kein Musiker. (Weiß ich das, oder ist's nur leere Rhetorik?) Aber, wie die heutigen Deutschen sagen würden, Aktuelles zu betrachten, bedenke man die Verbindung zwischen Mathematik und Musik die in unserer Gegenwart von elektronischer Rechnertechnik geschaffen wird. Die Rechnerprogramme (software) mittels derer Musikaufführungen elektronisch aufgenommen, verstärkt, bildlich als Schallwellen dargestellt, und schließlich akustisch reproduziert werden, diese Programme sind unstreitbar gelöste Mathematikaufgaben. Übrig bleiben die Fragen ob es dann nicht möglich sein sollte, musikalische Kompositionen lediglich mittels von Rechnerprogrammen zu entwerfen und auszuarbeiten. Meinem Verständnis gemäß ist dies unstreitbar der Fall, und ich wüsste keinen Grund, weshalb sich nicht im Laufe von Jahren, Jahrzenten oder Jahrhunderten eine Volksschicht entwickeln könnte deren Mitglieder aus solch künstlicher Musik, wie wir aus natürlicher, Freude und Erbauung schöpften. Dieser Erwägung wiederum ist eine Brücke zu anderen großen Themen, nämlich, 1) in welcher Weise sich die Neigung zu spezifischen Musikwerken entwickelt und 2) die Charakteristik der Musik welche sie lieblich und erbaulich macht. Betreffs der ersten Frage, wiederhole ich meine Behauptung dass wir Menschen uns dadurch erhalten, dass wir ohne unser Zutun, ohne uns dessen bewusst zu sein, uns an andere Menschen und an die Beschaffenheiten unserer Umwelt angleichen, anpassen. Demgemäß meine ich dass im Laufe der Zeit die künstliche mathematische Musik der wir systematisch ausgesetzt wären auch unser Gehör, unsere Sprache prägen, beeinflussen würde; dass ein neues von künstlicher mathematischer Musik geprägtes Hören uns für diese Musik empfänglich machen würde. Demzufolge würde möglicherweise die künstliche Musik in unserem Seelenleben einen Einfluss vergleichbar mit der Klassischen einnehmen. Wegen der zweiten Frage nach der Charakteristik der Musik welche sie lieblich und erbaulich macht, habe ich zwei Vorschläge, a) subjektiv und b) objektiv. a) Ich vermute das meine ungemeine Neigung zu der Musik Bachs und zu den Liedern Schuberts darauf beruht, dass ich sie wiederholt in frühester Kindheit gehört habe, und dass sie sich mir, wie die deutsche Sprache, ins Gemüt geprägt haben und ein Teil dieses Gemüts geworden sind, so dass ich, wenn ich sie heute höre, mich selber höre; dass ihn ihnen sich mein Selbst bestätigt fühlt so dass ich mich nun mit ihnen und durch sie zu Hause fühle. b) Betreffs möglicher objektiver Begründung, wage ich kaum zu erwähnen dass sie aus anderen unbekannten Gründen, in ihren Melodien Harmonien und Rhythmen und nicht zuletzt in ihrer Sprache, die Beschaffenheiten meines Gehörs, meines Gemüts, meines Wesens wohltuend ergänzen. Das ist sehr allgemein gesagt; aber auf Genaueres vermag ich heute Abend nicht zu kommen. Liebe Cristina, ich kann mir vorstellen dass meine Erwägungen betreffs mathematischer Musik Dich befremden. Bitte vergib mir. Bitte ärgere Dich nicht über mich. Bitte erlaube mir auch hinfort meine Briefe an Dich mit dem Gebet zu beschließen: Dein Jochen