Liebe Gertraud, lieber Bernd, Vielen herzlichen Dank für Deinen Brief. Ich notiere meine Gedanken darüber umgehend, "in real time", ein Ausdruck aus dem Bereich des elektronischen Rechnens, den ich mit "Echtzeit" übersetze; will sagen, ich schreibe meine Gedanken auf indem ich sie denke, statt sie mit unangemessener Zuversicht dem Gedächtnis anzuvertrauen wo ich sie möglicher Weise niemals wiederfinden würde. Du schreibst: "Mit Rilkes Engeln kann ich nichts anfangen, außer dass sie wunderbar klingen, wie so viele dieser Gedichte. Man lernt daraus immer wieder das Betrübliche, dass nichts Höheres für den Menschen gemacht ist, dass es keine Brücken gibt zwischen Menschlichem und - etwa - Himmlischem außer der vergeblichen Sehnsucht der Menschen. Warum wohnt ihnen dieses Bedürfnis inne, wenn dem doch nichts Erfüllendes entspricht? Wozu dieses Bedürfnis nach Besserem, Höherem, Dauernden usw.? Darwin ist wohl auch nichts dazu eingefallen." Da hast Du Dir wieder einmal eine Eins auf dem Gebiet des Literatur- verständnisses verdient. Denn Deine Frage: "Warum wohnt ihnen dieses Bedürfnis inne, wenn dem doch nichts Erfüllendes entspricht?" ist genau die Frage auf welche Rilke seine LeserInnen hinzuweisen beabsichtigt. Und wenn es wahr wäre, dass Du mit Rilkes Engeln "nichts anfangen kannst," so wäre dies vielleicht weil Du sie nicht mehr benötigst, weil Du die Verzweiflung die sie verkünden (statt der "großen Freude" des Lukasevangeliumsengel), längst auf eigenen Wegen entdeckt hattest. "Darwin ist wohl auch nichts dazu eingefallen," weil er kein Dichter, nicht einmal "Geisteswissenschaftler" war. Aber mein Inselheld, Maximilian Katenus, hat nicht Unwesentliches daraus gefolgert, Betrachtungen die man sogar als "Darwinisch" bezeichnen möchte, wenn man nicht vorzöge sich diesen Ausflug in die naturwissenschaftliche Mythologie zu ersparen. In verschiedenen Gesprächen mit seinen "drei" Freunden - er war der vierte - behauptet Katenus dem menschlichen Gemüt sei die Fähigkeit - nein, die Notwendigkeit - zum Idealisieren eingeboren, durchaus vergleichbar mit anderen Fakultäten wie, zum Beispiel, Besinnen, Denken, Erinnern, Vergessen, Sprechen, Sehen, Hören, Fühlen, und Lieben. Katenus behauptet das Idealisieren sei eine synthetisierende Fakultät mittels derer der Mensch sich eine Welt erbaut - oder erdichtet - die ihm das Leben erträglich macht und die ihm das Überleben ermöglicht. Katenus erklärt dass er die Zusammensetzung von Linien aus Punkten, von Flächen aus Linien, von Körpern aus Flächen als elementare Idealisierungen betrachtet, wie auch zum Beispiel der Schein der Bewegung der sich aus schnell aufeinander- folgenden Bildern ergibt, - wie etwa in der Kinematophotographie. Die Sprache erbaut eine Welt besonderer Begriffe die das Leben, Erleben und Überleben möglich machen; darunter die pseudo-religiösen Begriffe von Wahrheit, Tugend, Gerechtigkeit, "Güte", - und viele andere mehr. Katenus behauptet (mit Goethe) das geistige, nicht weniger als das körperliche Menschenleben verlaufe in einem Hin und Her; wie etwa Wachen und Schlafen, Ein- und Ausatmen, Systole und Diastole im Blutkreislauf. Im Geistigen erkennt Katenus Erinnern und Vergessen; vor allem aber Idealisieren und Entidealisieren als von Natur gegeben und von Natur notwendig. Wenn Du nun beanstandest: "Warum wohnt ihnen (den Menschen) dieses Bedürfnis inne, wenn dem doch nichts Erfüllendes entspricht?" so findest Du eine Antwort im letzten Teil von Platons Gastmahl, wo die renommierte Eheberaterin Diotima, die Liebe als Zeugnis der Unvollkommenheit des Menschenwesens bedeutet, eine Unzulänglichkeit, ein Bedürfnis nach Erfüllung, nach Vervollkommnung, die Sehnsucht nach dem Himmel, nach dem Ideal, nach dem Göttlichen, eine Unzufriedenheit die auch weit jenseits der Geschlechtlichkeit waltet. Du beklagst dass diese Sehnsucht unersättlich wäre. Das ist nun einmal so. Katenusens Antwort auf Deine Beschwerde ist, dass die enttäuschende Unzulänglichkeit jeglichen Ideals durch Entidealisierung aufgewogen und aufgehoben werden sollte. Katenus meint das Entidealisieren sei die große "philosophische" Aufgabe unserer Zeit: Entidealisierung der Geschichte als verdorbene, unechte Erinnerung; Entidealiserung der sogenannten Geisteswissen- schaften als gekünstelte dem Erleben entfremdete Sprachgefüge; Entidealisierung der Naturwissenschaften als synthetische Symbolsysteme welche zwar des Menschen Wirksamkeit ins Maßlose steigern, ihn aber zugleich in eine gekünstelte unnatürliche Heimat locken in der sie ihn zuletzt gefangen halten. Entidealisierung gesellschaftlicher Normen, ins Besondere der Gerichtsbarkeit, welche, obwohl sie das Überleben den Staaten und Bürgern ermöglichen, indem sie diese gegen einander schützen, sich dennoch als betrügerisch und unwahrhaftig erweisen. Katenus beurteilt die Nantucket Klempnerverfahren als unentbehrliche Entidealisierung unentbehrlicher Idealisierungen von gesellschaftlicher Wahrheit und Gerechtigkeit; dementsprechend bewertet er diese Prozesse als sinnvoll und vielleicht sogar ein wenig ersprießlich. Worauf ich ihm entgegne, er mache aus der Not eine Tugend. So etwa die Ergüsse die Dein Brief heute hervorgerufen hat. Wie es für mich mit 85 Jahren nicht zu spät war mich in das Komponieren von Sonetten einzuüben, so erlaube ich mir die unverschämte Feststellung das es für Dich mit Deinen 75, vielleicht doch nicht zu spät ist, Dir vor den herkömmlichen philosophischen um nicht zu schreiben religiösen Bestreben unserer geistigen Überlieferung einen Knicks zu erlauben. Jetzt werde ich meine ungehörigen Überlegungen mindestens zwei Tage gären lassen, eh ich entscheide ob ich sie Dir zumuten und abschicken sollte. Zum Beschluss erinnere ich mit Begeisterung die biblischen Segenssprüche, heute Nachmittag als auf jeden von Euch gemünzt: 4 Mose 6:24-26 Luther Bibel 1545 24 DER HERR segene dich / vnd behüte dich. 25 Der HERR lasse sein Angesicht leuchten vber dir / Vnd sey dir gnedig. 26 Der HERR hebe sein Angesicht vber dich / Vnd gebe dir Friede. Numbers 6:24-26 King James Version 24 The Lord bless thee, and keep thee: 25 The Lord make his face shine upon thee, and be gracious unto thee: 26 The Lord lift up his countenance upon thee, and give thee peace. Vulgata: 24 benedicat tibi Dominus et custodiat te 25 ostendat Dominus faciem suam tibi et misereatur tui 26 convertat Dominus vultum suum ad te et det tibi pacem Auch nicht zu spät für ein paar griechische Worte aus der Septuaginta: 24 Εὐλογήσαι σε κύριος καὶ φυλάξαι σε, 25 ἐπιφάναι κύριος τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ἐπὶ σὲ καὶ ἐλεήσαι σε, 26 ἐπάραι κύριος τὸ πρόσωπον αὐτοῦ ἐπὶ σὲ καὶ δῴη σοι εἰρήνη Euer Jochen