Lieber Herr Nielsen, die zweiwöchentliche Stundung von meiner brieflichen Zudringlichkeit die ich Ihnen versprach ist abgelaufen, und nun ist es an der Zeit Ihnen Bericht und Rechenschaft zu erstatten über was sich seitdem im Oberstübchen entwickelt hat. Am einfachsten, eine unschuldige Tãndelei mit Shakespeare. Ich hab Sonett 116 (oder 110, je nach der Ausgabe) auswendig gelernt: Let me not to the marriage of true minds Admit impediments. Love is not love Which alters when it alteration finds, Or bends with the remover to remove. O no! it is an ever-fixed mark That looks on tempests and is never shaken; It is the star to every wand'ring bark, Whose worth's unknown, although his height be taken. Love's not Time's fool, though rosy lips and cheeks Within his bending sickle's compass come; Love alters not with his brief hours and weeks, But bears it out even to the edge of doom. If this be error and upon me prov'd, I never writ, nor no man ever lov'd. und bin erstaunt über die Meinungsverschiedenheiten über den Begriff "marriage of true minds" welche sich aus eines auch nur oberflächlichen Überlesens der Besprechungen im Internet ergeben, Verschiedenheiten auf welche einzugehen ich hier unterlasse außer zu bemerken, dass ich den Ausdruck "marriage" nicht nur auf die herkömmliche "Ehe" deute, sondern weit allgemeiner auf jede leidenschaftliche geistige Beziehung zwischen Menschen, denn das Sonnet bezieht sich ausdrücklich auf "true minds". Einfacher, und vielleicht nur auf technischer Ebene, die Bemerkung dass von den 7 Reimen in diesem Sonnet, nur 4 echte Reime sind: minds-finds, mark-bark, shaken-taken, cheeks-weeks, indessen 3 Reime, jedenfalls im Klang des zeitgenössichen Englisch, unecht sind: love-remove, come-doom, prov'd-lov'd sind nur sichtbare, nicht aber hörbare Reime. Ich bin zu ungebildet eine Erklärung auch nur vorzuschlagen. Frage mich, war die Aussprache des elisabethanischen Englisch gründlich verschieden von dem modernen? Ist die Billigung der Unebenheit als Behauptung dichterischer Freiheit zu deuten? Oder erlebte der Dichter die Sprache bildlich statt melodisch, visuell statt akustisch? Darüber möchte eingehenderes Lesen (und Horchen) von Shakespeares Sprache aufklären. Aber wo wäre die Zeit, die sich so behende verflüchtigt, aufzuscheuchen? Abgesehen von diesen poetisch-kritischen Tändeleien, hab ich viele Stunden mit der Fortsetzung des sechsten Buches meiner Romanserie "Vier Freunde" verbracht. Ich hab mich überzeugt dass jede ernste dichterische Darstellung Selbstbildnis ist. So erscheint Goethe seriatim als Werther, als Götz, als Egmont, als Faust, als Tasso, als Thoas, als Orest, und vielleicht auch als Pylades in Iphigenie, und selbstverständlich als Wilhelm Meister. Malte Laurids Brigge ist Rilke, Tonio Kröger, Gustav von Aschenbach, Hans Castorp, Joachim Ziemssen sind Thomas Mann ... Die Liste hat kein Ende. Und ich, mit Dementi jeglichen skurrilen Vergleichs, hab mich in meine Romane als Jakob Döhring, Jonathan Mengs, Joachim Magus und Maximilian Katenus eingepfropft; und als ob das nicht gereichte mein Ich der Welt anzubieten, meine ein fünftes Ich hinzufügen zu sollen, ein Ich in dem meine Klempnerei-eskapaden, meine spielerische Gerichtsstreitsüchtigkeit, einen Spiegel finden, ein Ich das mein Orchester von Beamten, Anwälten, Richtern, Beteiligten, Klempnern, Kritikern und Zuschauern in einer von mir komponierten Gerechtigkeitssymphonie dirigiert, ein Ich das dem eigenen in einem Maße ähnelt, dass ich mich schämen muss. Weiß noch nicht unter welchem Namen ich ihn vorstelle, vielleicht nur mit Anfangsbuchstaben: E.S.M (Ein Selbst Macher). Immerhin ist die Gerichtsgeschichte unmittelbar; sie liegt mit fantastischen Einzelheiten vor, und braucht nicht erfunden zu werden. Die menschlichen, die seelischen Dimensionen dieses lustigen Trauerspiels müssen sich in meinem Gemüt entwickeln. Im Mittelpunkt steht - oder liegt - Charlotte Graupe, die es auf Joachim abgesehen hat, bis jetzt erfolglos, vom Richter Adams, einem zeitgenössischen Don Juan, sehnlich begehrt. Charlotte hat die Einladung des Richters seine Kebse zu sein mit dem Vorbedacht angenommen, Katenus zu retten, ein gutes Werk das sie in der Linnäusstraße unverbrüchlich einbürgern wird, zugleich aber mit der Absicht Joachim um seine Zuneigung zu erpressen. Denn Katenusens Schicksal liegt in Adams Macht, und Adams liegt - wörtlich und bildlich in Charlottens Macht. Katenus ist Joachims geliebter Freund. Joachim wird alles tun, wird sogar, wenn nötig, Charlotte heiraten, um Katenus zu retten. Und dann wenn Charlotte Joachim geheiratet hat wird sie aus Eifersucht Joachims Freundschaft mit Mengs vergiften und wird Mengs ins Unglück stürzen. Dies alles wird geschehen,vorausgesetzt, dass ich lange genug lebe, und dass mein Wahnsinn nicht zuvor Oberhand gewinnt, wenn er sie nicht schon gewonnen hat. Vielleicht ist das was Shakespeare meinte als er schrieb; "But bears it out even to the edge of doom." Lieber Herr Nielsen, ich verspreche Ihnen weitere Stundung von meinen quasi-obszönen Meditationen von mindestens zwei Wochen. Ich sende Ihnen beiden herzliche Grüße. Bitte fühlen Sie sich, wie stets, zu keiner Antwort verpflichtet. Jochen Meyer