Lieber Herr Nielsen, Dank für Ihren Brief, den ich wieder einmal umgehend beantworte, eh die Gedanken die er auslöst aus meinem Gedächtnis verschwinden. Betreffend Shakespeares 116. Sonett, Let me not to the marriage of true minds Admit impediments. Love is not love Which alters when it alteration finds, Or bends with the remover to remove. Man spreche nicht bei treuer geister bund Von hindernis! Liebe ist nicht mehr liebe Die eine ändrung säh als ändrungs-grund Und mit dem schiebenden willfährig schiebe. möchte ich auf den Widerspruch zwischen 'true" und "impediments" hinweisen, wo Treue als Beständigkeit, und Unbeständigkeit als Untreue gedeutet werden. Bei "treuer Geister Bund" sind beide Geister treu, und Änderung eines jeden ist ausgeschlossen weil Änderung untreue besagte. So ist es widersprüchlich von möglicher Änderung eines treuen Geistes zu schreiben. Sie ist unmöglich. Die Möglichkeit des Unmöglichen zu konstatieren ist paradox. Paradox ist die Quelle der Wahrheit der Sprache, weil Paradox die Unmöglichkeit der Sprache dem Erleben gerecht zu werden bezeichnet. "Erkenne jetzt den Widerspruch, dass Tiefe aus der des Lebens Wirklichkeit erscheint, der Seichtigkeit des Scheins entgegen liefe. Das Paradox sagt was es wirklich meint." Paradox empfinde ich auch die Feier des 8. Mai als Jahrestag des Endes der Nazi-Herrschaft die ich als Erscheinung einer unheilbaren Seelenkrankheit der Völker betrachte, eine Seelenkrankheit, entsetzlich wie die Pest, welche immer wieder aufs Neue mit unterschiedlicher Heftigkeit in Erscheinung tritt. Das scheinbare Paradox des 116. Sonetts ließe sich vielleicht auch durch eine waghalsige Konjektur betreffs des Sinns des Wortes "marriage", erläutern, eine Konjektur die in Stefan Georges Verdeutschung des Wortes "marriage" mit dem Worte "Bund" vorausahnend angedeutet ist. Zu Shakespeares Zeiten bestand weniger Gleichheit zwischen den Geschlechtern als heute. Die Treue des Mannes zu dem Weib das ihm gehörte war grundsätzlich andrer Art als die Treue des Weibes zu dem Mann der sie besaß. Sobald man annimmt dass die Beziehung von Mann und Weib alles andere war als gegenseitig, alles andere war als kommutativ, wie die Mathematiker sagen würden, dass als sein Besitztum das Weib geringere Kapazität zur Treue hatte als ihr Mann, sobald man ahnt dass sich vielleicht "the marriage of true minds" nicht auf gegenseitige Leidenschaft bezieht, dass es unbestimmt ist in welchem Maße die Weiber überhaupt über "mind", über intelligenz, über Geist, also über "true mind", über "treuen Geist" verfügen, dann erscheint "true mind" als der treue Geist dem Manne vorbehalten, dessen eheliche Leidenschaft durch keine Wankelmütigkeit, durch keine Wechselhaftigkeit des unbeständigen Weibes beeinträchtigt würde. George übersetzte: Man spreche nicht bei treuer geister bund Von hindernis! Liebe ist nicht mehr liebe Die eine ändrung säh als ändrungs-grund Und mit dem schiebenden willfährig schiebe. Der alte Bund, der neue Bund, wie auch immer. Die kanonische Bedeutung von "Bund" als "Covenant" legt eine Rückübersetzung nahe: Let me not to the cov'nant of true minds Admit impediments. Love is not love Which alters when it alteration finds, Or bends with the remover to remove. The covenant of true minds als Liebe erinnert an das Testament des treuesten Geistes: "Also hat Gott die Welt geliebt ..." obgleich Er's nicht im Sinne hatte sie zu ehelichen. Love, Liebe entpuppt sich nun nicht als Eros sondern als Agape, als Wohlwollen anstatt als Lust, ein Wohlwollen das nicht auf Erwiderung sondern auf Dankbarkeit Anspruch erhebt. Man mag annehmen, dass es sich um eine gottähnliche Agape handelt, die vielleicht auch dann und wann uns Menschen zuteil wird, dass es sich um eine gottähnliche Liebe handelt "that bears it out even to the edge of doom," eine göttliche Agape die nicht zurückschreckt vor der Hölle Rand, die, nebenbei bemerkt, sich auch von der N.S.D.A.P. nicht ins Bockshorn jagen lässt. Georges Deutung von "edge of doom" als Grabes Rand wird nun hinfällig, denn jedenfalls mit 87 Jahren verwandelt sich das Grab ins Proszenium des Himmels. Lieber Herr Nielsen, Sie mögen all dies der Erklärung unterziehen, das ich mir im Internet, zu lange, zu oft, zu viel, Matthäuspassions Aufführungen angehört und angeschaut habe. Nathaniel plant Anfang Juni ein Konzert mit Aufführungen von Beethovens Viertem Klavierkonzert, der Tannhäuser Overtüre, und einem weiteren kleinen Stück dessen Name ich vergessen habe. Die genauen Daten schreibe ich Ihnen noch. Bitte fühlen Sie sich aber zu keinem Beiwohnen verpflichtet; auch eine mögliche Unterhaltung mit mir muss Ihren Verpflichtungen zu Kindern und Enkeln weit nachstehen. In diesem Zusammenhang, die Telephongesellschaft (Verizon) weigert sich die Telephonverbindung, 617-489-1043 in Stand zu halten. Mit meinem Radiotelephon, 617-548-5768 werden Sie mich wahrscheinlich erreichen können. Am zuverlässigsten ist das Internet. Herzliche Grüße an Sie beide. Jochen Meyer