19501009JD Cambridge, Montagabend, den 9. Oktober 1950 (Kopie an Margaret) Liebe Mutti, lieber Papa, WQXR überträgt soeben den dritten Satz von Beethovens erstem Klavierkonzert. Der Empfang ist gut, und der Verstärker, den ich gebaut habe, funktioniert fast so gut wie unser großes Radio zuhause. Ich bin eine Stunde früher als gewöhnlich von der Bibliothek zurückgekommen, um Euch zu schreiben, denn ich habe viel an Euch gedacht. Ich habe mich sehr über eure beiden letzten Briefe gefreut, und ich wünsche nur, ich hätte mehr Zeit Euch zu antworten. In der Bibliothek heute Abend ist mir merkwürdiges passiert. Ich wurde einem neuen Comparative Literature Studenten vorgestellt, der mir sagte, er hätte schon von mir gehört, Levin hätte ihm von meiner Arbeit im letzten Semester mit viel Bewunderung erzählt. Das ist nun schon das zweite Mal, dass mir ähnliches passiert. Vor ungefähr einer Woche, wurde mir erzählt, dass Levin meine Tapferkeit (Courage) zur Medizin überzugehen erwähnt habe. Ist das nicht merkwürdig? Von keinem hätte ich Anerkennung weniger erwartet, und sie erfreut mich nur in dem Bewusstsein, dass meine Wahl Medizin zu studieren nicht ein Umkehren, sondern ein Fortschritt bedeutet. Oder rede ich mir das nur ein? Die Sektion heute Morgen war verteufelt schwierig. Die Leiche hatte das Wochenende nicht gut überstanden, und als wir sie umdrehten, um die Rückseite des Oberarmes zu sezieren, verbreitete sich ein solch ungeheurer Leichengeruch, dass Poskanzer und Kahn stehenden Fußes das Weite suchten, und auch Alex sich bald entfernte, eine Zigarette zu rauchen. Inzwischen nahm ich mir ein Tuch, und fing an den Seziertisch gründlich zu säubern, denn die Abflussrinne war mit einer dicken Schicht von verwesendem Fleisch bedeckt, das mit der Lösung heruntergetropft war. Nachdem ich meine Arbeit vollendet hatte war schon ein großer Teil des Gestank vertrieben. (Mittwoch werde ich mit einer Flasche Lysol bewaffnet erscheinen.) Kurz danach kam der Vorsteher der Leichen, von Kahn aufgesucht und angeschleppt. Dieser Leichenvorsteher ist ein kleiner Mann, mit schwarzem Schnurrbart und grauen, blassen Augen. Er sieht aus wie ein Zauberer; sein Handwerk hat ihn gestaltet. Er geht langsam, ein wenig vornüber gebueckt. Er kam mit einer 50 cm³ Spritze, und beklagte sich während der Einspritzungen machte, wie überarbeitet er sei, und wie kein Mensch seine Arbeit anerkenne. Er sprach gedämpft in leidenschaftsloser Stimme, wie seine Augen. Er weiß genau Bescheid, wie es mit den Leichen steht. Vielleicht weiß er sogar die Namen und Umstände des Todes, die den Studenten natürlich verheimlicht werden. Ich will den gelegentlich danach fragen. Er erzählte uns, unsere Leiche sei seit dem 10. März tot und hätte fünf Wochen gefroren gelegen, vor dem die Einbalsamierung vollzogen sei. Deshalb sagte er, wäre die Präparation missglückt, das zweite Mal in 27 Jahren. Luftblasen haben sich unter der Haut gesammelt und werden uns im Laufe der Sektionen mit überwältigendem Geruch begegnen. Der Leichenvorsteher hat seine eigene merkwürdige Art von den Toten zu sprechen. Die Mediziner sagen “this subject“ oder gar „this specimen“ – ich könnte sie jedes Mal ohrfeigen. Der Leichenvorsteher, in seinem grauen Rock, der bis an die Knie geht, spricht von ihnen in sehr kameradschaftlichen Ton als "this fellow". Nachdem er sich eine halbe Stunde lang mit "this fellow" beschäftigt hatte, ließ er es gut sein. Seufzte noch einmal leise, nahm seinen Eimer und seine Spritze und ging hinaus. Die Sektion war nun von Anfang an verdorben. Wir hatten fast eine ganze Stunde verloren, Poskanzer war völlig erledigt und tat danach den ganzen Tag keinen Handschlag. Kahn hätte sich nicht vorbereitet, hatte auch keine Lust, und zog Alex zur Abwechslung mit einer Pinzette an den Haaren. Alex arbeitete mit viel Fleiß und tat den größten Teil der Arbeit, dabei fluchte er regelmäßig und fügte mit hoffnungsloser Stimme hinzu, "If only he didn't stink so much." Poskanzer sagte man müsse wohl doch an eine andere Welt glauben, oder wäre dies vielleicht die Hölle in der jeder nach seinem Verschulden zur Verwesung verdammt sei. Ich versicherte ihm, dass es noch trauriger um ihn aussehen würde. Die Würmer seien gründlicher als Medizinstudenten. Kahn erzählte aus den Brüdern Karamasoff, und verglich sich mit einem Arzt in dem die Liebe zur Humanität und die Abscheu vor dem Individuum zu gleicher Zeit wachsen, so das er die Nähe eines Kranken kaum länger als ein paar Minuten ertragen kann. Und was tat ich? Ich war müde und konnte nicht auf den Namen der Nerven kommen, wusste nicht ob ich statt des Deltoideus den Supraspinatus, durchschnitten hatte, zerriss aus Versehen den "Axillary" Nerven, und ging alle 10 Minuten um mir die Hände zu waschen und fragte mich andauernd, ob die Routine sogar schon mich hart und gefühllos gemacht hätte. Ich konnte nicht anders als lachen, wenn er Alex mit dem Zeigefinger unter der Skalpula wühlend, von Kahn an den Haaren gezogen wurde. Im Augenblick taten mir die Toten durchaus nicht mehr leid; vor ihnen hatte ich keine Angst mehr, nur vor den Lebenden. Am Nebentisch arbeiteten vier ausgefallen grobe und vulgäre Jungens aus Princeton. Einen von ihnen habe ich heute Morgen gefragt, ob er sich verlaufen, und den Weg zum Schlachterladen verpasst habe. Einen großen Teil der Zeit im Sektionssaal singe ich mir selber zu, meistens Bach Arien. Am liebsten habe ich, „Mache dich mein Herze rein. „ Vor mir steht das Dürer - Bild von dem ich Euch gestern Abend schrieb, es trägt den Titel, „die Dreifaltigkeit, „und die Unterschrift A.D. 1511. Ein merkwürdiger Holzschnitt. Der Heilige Geist wird dargestellt als eine Taube, die jedoch einer Taube gar nicht ähnlich sieht. Sie hat einen langen Schnabel und zwei runde Augen, und gleicht von vorn gesehen einer Eule. Bewegungslos schwebt sie über des Vaters Haupt, wie seit Noahs Zeiten noch keine Taube sich gehalten hat, höchstens ein Ruettelfalke vor dem er auf seine Beute schießt. Die Taube schwebt in einer Flut von Licht. – Ob sich wohl Dürer der merkwürdigen Verkörperung bewusst war? Auf beiden Seiten des Holzschnittes schweben Engel von denen sieben eigene Physiognomien haben. Einer trägt den Essigschwamm und blickt andächtig zur Erde, ein anderer mit anmutigem seitwärts geneigtem Gesichte, trägt den Speer. Einer, der ein beflissener Diener zu sein scheint, trägt eine Säule (über deren Bedeutung ich mir nicht im klaren bin) auf der Schulter. Ein anderer sieht aus wie ein Vogel, mit ausgespreiztem Gefieder, mit langen Fingern, gerader Nase, und idiotischem Ausdruck in seinen hervorspringenden Augen. Der lehnt sich ans Kreuz und stiert neugierig auf das Geschehene. Vorn rechts ist einer, mit einem Doppelkinn und mit der Hand zur Brust gehoben um sein Mitleid auszudrücken. Dieser ist entweder Schauspieler oder Pastor. Der Engel direkt hinter ihm ist ängstlich und verstört. Entsetzen und Furcht sind auf seinem runden Munde, und mit keuscher Gebärde stützt er die schlaffe Hand des toten Jesu. In der Mitte zwischen den beiden englischen Gruppen, und direkt unter der Taube, thront Gott der Herr. Er trägt eine strahlende, reich gezierte Bischofskrone, darunter sein Haar in dicken ungeklärten Dürersträhnen hervorquillt. Er sitzt auf seinem Mantel, der von seinen Schultern im Viertelkreise fällt. Die Engel halten seinen Saum. Mit unsagbarer Güte, Milde und Liebe blickte auf den toten Leichnam des erschöpften Jesu der auf seinem Schoß und in seinen Armen ruht. Der Leichnam trieft noch von Blut. Die Zehen sind noch im Schmerz gespreizt. Die Augen sind geschlossen, aber der Mund atmet noch Qual. Das tief - geschattete Leichentuch hängt herab und schleudert im irdischen Winde wie eine Fahne von Blei. Unten jagen zerrissene Wolken, und vier alte, irdische Wolkenköpfe blasen kalte Winde auf die böse Erde. Ich habe viel zu viel Zeit mit meiner Beschreibung verbraucht. Alles was ich sonst noch zu schreiben hatte muss warten. Mittwoch wird Doktor Nardi, – so heißt der uns zugewiesene Assistent, er ist Resident in Surgery am Massachusetts General Hospital uns eine Prüfung geben. Da muss ich noch viel arbeiten. Morgen werde ich keine Bibliothek besuchen. Nun gute Nacht. Ich denke viel an Euch, lasst es Euch gut gehen und bleibt gesund. Vielen Dank für eure Briefe. Grüßt das Meer. Kuss Jochen 19501009JD *