Philadelphia Freitag, den 21. Juli 1950 Liebe Mutti, lieber Papa, Ihr werdet entsetzt sein, wenn ich Euch heute Abend am Telefon sage, – denn ich habe vor Euch heute Abend anzurufen, – dass ich noch gestern Abend bis nach Philadelphia gekommen bin, und Ihr werdet annehmen, dass ich mein Versprechen, mich auszuruhen wenn ich müde würde gebrochen hätte. Das habe ich auch, aber erst als ich ungefähr 30 Meilen vor Philadelphia war. Da hatte ich schon angerufen; man wartete auf mich, und ich konnte nichts machen als die Zähne zusammen beißen und weiterzufahren. Die Fahrt an sich war nicht anstrengend. Ich bin nie mehr als 50 Meilen Tempo gefahren; ich habe mich regelmäßig ausgeruht und mit Kaffee gestärkt, und auf der ganzen Fahrt ist es mir nicht einmal passiert, dass ich aus Müdigkeit, Unvorsicht oder Unachtsamkeit „beinahe“ Pech gehabt hätte. So bin ich ganz zufrieden mit meiner Reise, und mit dem Wagen, der sich in jeder Hinsicht großartig bewährt hat. Ich habe ungefähr 30 Gallon Benzin und zwei Quart Öl aufgefüllt. Ich könnte mir wünschen, dass mein Hiersein im Hause McPhedran genauso unproblematisch wäre wie es meiner Reise gewesen ist. Aber dem ist nicht so. Ich weiß nicht ob ich versuchen sollte, Euch Einzelheiten zu erklären oder nicht. Vollkommen bin ich selbst noch nicht im bilde, und man begreift diese Dinge entweder intuitiv, oder man begreift sie gar nicht. Margaret machte mir den einzigen Vorwurf, dass ich sie so lange alleine gelassen hätte, und erzählt mir dann im selben Atemzug, dass sie auch der Ansicht sei, dass der Ausflug nach Kanada eine Diversion, und Ablenkung, ein Ersatz für den Besuch nach Konnarock sein sollte. Nun glaube ich, sollte ich meinen Stolz ein bisschen in den Hintergrund schieben und das tun was für Margaret am besten und am wenigsten schmerzhaft ist. Ihrer Mutter Antipathie mir gegenüber ist wohl mehr auf Unwissen als auf Unwillen gegründet, und auf Bedenken, Sorgen, Erfahrungen und Schuldgefühlen, die eine logische und klare Betrachtung der Situation verbieten. Es ist nur gut, dass ich den Wagen hier habe, und dass Margaret und ich so viel als möglich im Freien sein können. Im übrigen glaube ich, dass es dumm ist Dinge klar und logisch verstehen zu wollen, die an sich weder klar noch logisch sind. Am besten scheint es mir ruhig und distanziert zu bleiben, vorsichtig zu sein wo ein scheinbar gerechtes Urteil rein destruktive Konsequenzen hat, und großzügig, wo Positives zu erreichen ist. Mit Margrit werde ich heute Abend sprechen. Ihr solltet Euch nicht wundern, dass man sie nicht zu einer Reise eingeladen hat, die nicht nur ohne mich geplant war, sondern die obendrein noch von mir ablenken sollte. Ich glaube nicht, dass Margrit traurig sein wird, wenn ich ihr die Situation erkläre. Ich hoffe nur, dass sie mit dem Wagen nicht allzu viel Schwierigkeiten machen wird. Ich werde sie aus rein egoistischen Gründen bitten ihn mir hier in Philadelphia zu lassen. Margaret erzählt mir, dass Margrit sich einbildete dass es ihr gut ginge. Man soll ihr diesen Wahn nicht nehmen, finde ich. Zu Mrs. Jarden bin ich heute Abend zum Essen eingeladen. Telefonisch hat sie mir nur gesagt, wie viel ihr daran läge, dass sich die ersten beiden Augustwochen in Philadelphia bin; das Bewusstsein dass sie mich nötig hat, soll mich beruhigen, und mir alle möglichen peinlichen Situationen erleichtern. Was hinterher werden soll, weiß ich noch nicht. Ich mag Margaret nicht so lange allein lassen, wenn Alleinsein sie derartig schmerzt. Gutzureden hilft nur sehr wenig, denn meine innere Unabhängigkeit wird sich kaum auf sie übertragen lassen, und sie würde sich nur umso einsamer fühlen. Was sagt Ihr nun zu allen meinen Sorgen? Findet Ihr nicht, dass ich mehr als meinen Anteil habe? Die Zeit wird sie zwar nicht lösen, und die Geduld wird sie nicht aufheben. Aber Sorgen sind doch auch vergänglich, wie Menschen. Sind nicht Sorgen wie Kinder der Seele? In unerforschtem Geheimnis gezeugt, mit Schmerz geboren, die Sorgen sind Kinder, erwachsen, und reifen, und sterben auch in qualvoller menschlicher Weise, und werden Gedächtnis und Sage und dunkle Erinnerung. Wir brauchen nur Geduld und Liebe. Nun noch einmal vielen Dank für den Wagen. Sorgt Euch nicht um mich. Ich will so oft schreiben wie ich kann. Bleibt gesund und denkt ab und zu an mich. Ich habe Euch sehr lieb. Wollt Ihr es mir glauben? Kuss Jochen