Liebe Cristina, Am Anfang, eine Berichtigung: der Hinweis auf den Briefwechsel mit meiner Kusine den ich dir sandte, war fehlerhaft, sollte sein: http://home.earthlink.net/~ej5meyer/MN_EJM_2009_06_09.pdf Das ist jedoch eine belanglose Sache, denn es besteht kein Grund dass Dich die Geschichte meiner Familie interessieren sollte. Die Briefe die Du mir zu meinem Geburtstag sandtest, hab ich abgedruckt um sie im Flugzeug während des Fluges nach Minnesota wiederholt zu lesen, und dann auch verschiedentlich während der vier Tage die mein Sohn und ich dort verbrachten. Ich deute sie als ein geistiges Abbild Deiner selbst, und wenn ich in einem früheren Brief etwas überschwenglich auf die von Goethe berichteten Bekenntnisse einer "schönen" Seele anspielte, so bezieht sich dies scheinbare Lob auf nichts mehr als die mir so liebenswürdige Ungeschminktheit Deiner Gedanken und Gefühle. Im Internet hab ich Dich bei Deinen Aufführungen der ersten Sätze von Prokofieffs Sinfonia Concertante, und Gaspar Cassadós Cello Suite, sowie auch des dritten Satzes von César Francks Sonate in A Dur, gehört und gesehen, eine offenbar begabte Künstlerin, eine schöne Frau die es nicht nötig hat sich anzumalen. Die Schminke die Du Dir auf dem Bild an Deinem Netzort angetan hat, ist Dir ungerecht, entstellt Dich. Lass sie weg. Für die so herzlichen Geburtstagswünsche hab vielen Dank. Doch beängstigt's mich, dass Du mir noch zehn weitere Jahre aufbrummen möchtest. 87 Jahre sind reichlich. 97 kaum vorstellbar. Den Geburtstagswunsch des 87 Jährigen hat Shakespeare verfasst: That time of year thou mayst in me behold When yellow leaves, or none, or few, do hang Upon those boughs which shake against the cold, Bare ruined choirs, where late the sweet birds sang. In me thou see’st the twilight of such day As after sunset fadeth in the west; Which by and by black night doth take away, Death’s second self, that seals up all in rest. In me thou see’st the glowing of such fire, That on the ashes of his youth doth lie, As the deathbed whereon it must expire, Consumed with that which it was nourished by. This thou perceiv’st, which makes thy love more strong, To love that well which thou must leave ere long. (Sonnet 73) Du schriebst am 6. Februar: "Emotionen helfen uns die Dinge zu fühlen und zu ahnen. Emotionen lassen uns jedoch nichts wissen, aber sie sind der erste, nein entschuldige, nach dem Instinkt der zweite Schritt zur Wahrheit. Ohne die Emotion würden wir nicht einmal auf die Idee kommen, nachzudenken. Die Emotion ist zuerst und inspiriert uns zum Nachdenken. Wieso fühlen wir so? Wieso sind wir verliebt? Wieso haben wir Angst vor etwas? Wieso glauben wir an Gott? Der Glaube an Gott ist ein Gefühl." "Wenn unser Bewusstsein diesen Teil des Ichs, den du beschreibst und “Gott” nennst, nicht erreichen kann, woher wissen wir dann, dass es ihn gibt? Wir fühlen es wahrscheinlich. Ich weiß nicht, ich glaube nur, dass wenn wir unser Bewusstsein genug anstrengen, wenn wir es schaffen uns wirklich zu konzentrieren, wenn wir unsere Gemütszustände, Launen, unsere Faulheit nur für ein paar Momente zur Seite schieben und vergessen würden, und für vielleicht nur einen kurzen Augenblick es schaffen, uns tatsächlich mit Verstand zu konzentrieren und zur reinen Wahrheit zu gelangen (die von mir aus jedem Menschen subjektiv anders wahrnehmbar sein mag), ich glaube dann können wir schon zu diesem im Rücken des Bewusstseins liegenden Ich gelangen und es ansatzweise verstehen. Und dann würden wir auch Gott verstehen. Und dann würden wir nicht an Gott glauben sondern an Gott wissen. Nur tut das fast niemand, weil die Mehrheit der Menschen zu faul dazu ist, ihren Verstand zu benutzen. Es ist doch viel einfacher die Bibel zu lesen und alles zu glauben, was darin steht, oder zur Messe zu gehen und hinzunehmen, was der Priester predigt, als all die Weisheiten, die uns gelehrt werden, selbst wahrlich zu verstehen." Deine Gedanken geben zu vielen Erwägungen Anlass. Nicht alles heute, aber weiteres vielleicht später. Du fragst: “Wieso sind wir verliebt?” Ich antworte: Um das eigene Ich zu befestigen. Wieder verlasse ich mich auf Shakespeare und zitierte Sonett Nr.116, anderweitig auch als Nr. 110 nummeriert: Let me not to the marriage of true minds Admit impediments. Love is not love Which alters when it alteration finds, Or bends with the remover to remove. O no! it is an ever-fixed mark That looks on tempests and is never shaken; It is the star to every wand'ring bark, Whose worth's unknown, although his height be taken. Love's not Time's fool, though rosy lips and cheeks Within his bending sickle's compass come; Love alters not with his brief hours and weeks, But bears it out even to the edge of doom. If this be error and upon me prov'd, I never writ, nor no man ever lov'd. Ich habe dies Sonnet auswendig gerlernt. Nach unzähligen Wiederholungen im Verlauf der Wochen ist sein Wortlaut nun in meinem müden 87 Jahre alten Gedächtnis fest verankert. Gibt mir Gelegenheit seinen Sinn oder - mit Verlaub - seinen Unsinn immer wieder zu bedenken, als Muster für die Poesie im Allgemeinen, die eigenen unbeträchtlichen Bemühungen einbeschlossen. Wenn ich die verschiedenen Verstöße gegen die gegenwärtige Umgangssprache bedenke, denn wer bedient sich heute eines intransitiven "alter"? Wo hört man, z.B., "The weather alters," oder "The temperature alters"? Oder gleichfalls eines intransitiven "remover". The word remover is incongruous without the specification of the object to be removed. Dann frage ich, hat sich die Sprache in Verlauf der vierhundert Jahre verwandelt? Oder wäre es, wie ich vermute, die Aufgabe der Poesie die Sprache überhaupt erst zu schaffen. Ich bin erstaunt über die Meinungsverschiedenheiten über den Begriff "marriage of true minds" welche sich aus einem auch nur oberflächlichen Überlesen der Besprechungen im Internet ergeben, Verschiedenheiten auf welche einzugehen ich hier unterlasse außer zu bemerken, dass ich den Ausdruck "marriage" nicht auf die herkömmliche "Ehe" deute, sondern weit allgemeiner auf jede leidenschaftliche geistige Beziehung zwischen zwei Menschen, von denen der eine treu, die andere aber untreu ist. Das Sonnet bezieht sich ausdrücklich auf "the marriage of true minds". Daraus entnehme ich dass “marriage of true minds,” nicht wie Stefan George meint, als “treuer geister bund” übersetzt werde sollte, sondern als “Bindung eines treuen Herzens,” wobei ein Herz treu, aber wohl bemerkt das andere untreu ist. Denn wären beide treu, wäre das Gedicht sinnlos und überflüssig. Zum Vergleich, die elegante Übersetzung von Stefan George: Man spreche nicht bei treuer geister bund Von hindernis! Liebe ist nicht mehr liebe Die eine ändrung säh als ändrungs-grund Und mit dem schiebenden willfährig schiebe. O nein · sie ist ein immer fester turm Der auf die wetter schaut und unberennbar. Sie ist ein stern für jedes schiff im sturm: Man misst den stand · doch ist sein wert unnennbar. Lieb' ist nicht narr der zeit: ob rosen-mund Und -wang auch kommt vor jene sichelhand .. Lieb' ändert nicht mit kurzer woch und stund · Nein · sie hält aus bis an des grabes rand. Ist dies irrtum der sich an mir bewies · Hat nie ein mensch geliebt · nie schrieb ich dies Diese Betonung der Liebe als Beständigkeit, als unveränderliche Treue, erinnert mich aber an die Warnungen des Sonetts von Rilke: XII. Sonett Wolle die Wandlung. O sei für die Flamme begeistert, drin sich ein Ding dir entzieht, das mit Verwandlungen prunkt; jener entwerfende Geist, welcher das Irdische meistert, liebt in dem Schwung der Figur nichts wie den wendenden Punkt. Was sich ins Bleiben verschließt, schon ists das Erstarrte; wähnt es sich sicher im Schutz des unscheinbaren Grau's? Warte, ein Härtestes warnt aus der Ferne das Harte. Wehe -: abwesender Hammer holt aus! Wer sich als Quelle ergießt, den erkennt die Erkennung; und sie fuhrt ihn entzückt durch das heiter Geschaffne, das mit Anfang oft schließt und mit Ende beginnt. Jeder glückliche Raum ist Kind oder Enkel von Trennung, den sie staunend durchgehn. Und die verwandelte Daphne will, seit sie lorbeern fühlt, daß du dich wandelst in Wind. Aus: Die Sonette an Orpheus, Zweiter Teil erinnert auch an Hofmannsthals Libretto zu Ariadne auf Naxos wo die Liebe "Die (k)eine ändrung säh als ändrungs-grund" als Todessehnsucht beschrieben wird, und der Liebe Verwandlung als Lebenstrieb. All dies in der Perspektive der Lehre meines Romanhelden Maximilian Katenus von der natürlichen "Pseudo-identität des Ich." Dementsprechend wäre vielleicht die von Shakespeare gepriesene beständige, unveränderliche Liebe ein verzweifelter Versuch das eigne Ich zu entdecken, zu befestigen, zu bestätigen. Jedes Mal wenn ich mir das 116. Sonett im Stillen im Gedächtnis wiederhole, denke ich darüber nach. Liebe Cristina, bitte ärgere Dich nicht an mir und grüße Deine Eltern von mir. Dein Jochen