Liebe Cristina, Dank für Deinen Brief, den ich wie gewöhnlich, fast umgehend beantworte, nicht um eine erhitzte Korrespondez zu schüren, sondern weil ich zunehmend vergesslich werde, und mir vorgesetzt habe was ich denke in Echtzeit - in real time - niederzuschreiben, statt im Gedächtnis zu speichern und später mühselig wieder hervorzurufen. Dank besonders für Deine liebevolle Sorge um meine Gesundheit. Die schwankt wie das Wetter im späten Herbst, doch ist's unmöglich den Winter aufzuhalten, selbst wenn man es wollte. Der Unterschied zwischen uns, - wir sollten ihn nicht verhehlen, ist dass Du mir ein längeres Leben wünscht indessen ich mich nach einem kürzeren sehne. Doch weder Wunsch noch Sehnsucht ändert was sein wird. Deine Überlegungen betreffs der Geduld sind mir sehr angenehm; denn Geduld schafft die Möglichkeit sich auf sich selbst zu besinnen und somit sein Leben zu verstehen. Dazu möchte ich bemerken, dass die Hetze, die Schnelligkeit die uns befällt und der wir uns nur mit Vorbedacht entledigen, als Folge der ungeheuren technischen Verwandlungen denen wir in den vergangenem Jahrhundert ausgesetzt wurden zu verstehen ist. Die unmittelbare Geschwindigkeit von Radio, Fernsehen, Telephon, Internet; die Unbeschwerlichkeit des Reisens mit dem Düsenflugzeug das es so mühelos ermöglicht alle Erdteile zu besuchen. Ist es nicht unvermeidlich, dass solche Neuerungen auch unsere Beziehungen zur Zeit, will sagen, unsere Geduld beeinträchtigen sollten? Die Themen die mein Denken zunehmend in Anspruch nehmen sind die Beziehungen zwischen uns einzelnen Menschen, und die Beziehungen des Einzelnen zur Menschengruppe, zur Gesellschaft. Das ist Problematik in welche wir alle verstrickt sind, jeder auf seinem Gebiet und in seiner Weise. Du, beim Aufführen der Musik die Du so fleißig erlernst, der Dirigent beim Zusammenstellen und Zusammenhalten seines Orchesters, Aufgaben denen er praktisch sein Leben vermacht, und ich zum Beispiel, beim Aufsetzen von überflüssigen Schriftstücken, die von keinem Gelesen werden, und die, ehrlich betrachtet, kaum lesenswert sind. Ich beklage mich nicht, ich bedenke nur, und geb' mich zufrieden mit Umständen die ich nicht zu ändern vermag. Seit dem Tod meiner Frau vor fast zwei Jahren, lebe ich, wie es sich gehört, vereinsamt. Ich beklage mich nicht. Der deutschen Sprache fehlen die gehörigen Worte. I live in solitude, but I am not lonely. Ich bin dankbar für den geistigen und seelischen Reichtum, Deine Briefe einbegriffen, mit welchem das Leben mich beschenkt. Grüße bitte Deine Eltern von mir. Dein Jochen