Liebe Cristina, Dein Brief macht mir viel Freude. Wenn ich ihn umgehend beantworte, so nicht um eine überhitzte Korrespondenz zu schüren, sondern aus Wirtschaftlichkeits- erwägungen, weil meine Gedanken von heute Abend morgen verflüchtigt sind und nur mit Mühe wieder heraufbeschworen werden können, wenn überhaupt. Du machst Dir Gedanken, "wie man als Künstler leben sollte?" Du zitiertest meine Bemerkung, die Künste seien "unentbehrliche lebenserhaltende Aufgaben des Menschen," und hast damit die vorläufige Antwort: als wirklicher Mensch. Thomas Mann ziert sich mit vorgeblichem Gegensatz von Künstler und Bürger. Er überzeugt mich nicht. Ich erlebe mein Schreiben, wie belanglos auch immer, als notwendig und lebenserhaltend für mich, ohne vorauszusetzen - oder zu schließen - dass meinen Bemühungen als Kunst bezeichnet sein sollten, oder ich selbst als Künstler betrachtet. Deine Beziehung zur Musik und zu Deinem Cello, so scheint es mir, ist gründlicher und echter als mein Verhältnis zur Sprache und zur Literatur. Den ersten Brief an Franz Xaver Kappus hat Rilke 1903 verfasst, im Alter von siebenundzwanzig Jahren und vier Monaten. Ich bin sechzig Jahre älter und wage nicht mir ein Verständnis des seelischen Erlebens anderer Menschen anzumaßen; bin aber bereit Dir von den eigenen 87 Jahren zu berichten und Rechenschaft abzulegen. Rilkes Rat ist ein strenger Hinweis auf die Innerlichkeit. "Sie sehen nach außen, und das vor allen dürften Sie jetzt nicht tun. Niemand kann ihnen raten oder helfen, niemand. Gehen sie in sich ..." In Rilkes Wortes höre ich ein Echo des Pietismus und der Mystik des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts, und später der Psychologie Kierkegaards der behauptete: "Die Subjektivität ist die Wahrheit." Du hingegen bezweifelst die Zulänglichkeit des inwendigen subjektiven Erlebens zum Künstlertum. Du fragst mit Klugheit: "Werden wir weise genug geboren, um von uns aus, ohne all zu viele Einflüsse von außen ein guter Künstler zu werden?" Du erkennst den Menschen als Herdentier. Ich glaube Du hast Recht. Ich selber habe über den Gegensatz von Innen und Außen, von Subjektivität und Objektivität, von (subjektivem) Erleben und (objektiver) Erfahrung seit vielen Jahren nachgedacht, mit dem Beschluss dass ich vor einem unlöslichen Widerspruch stehe, vor einem Paradox das ich nicht zu umgehen vermagen, das ich verstehen und hinnehmen muss. Als Kinder sind wir von unseren Eltern bedingungslos abhängig. Die Sprache die wir von ihnen lernen entspringt der Gesellschaft der Menschen, wie auch das Rechnen, das Handwerk, die Technik und die Kunst. Die geistige Zusammenarbeit bewirkt eine saumlose gedeutete Welt der Geistes- und Naturwissenschaften. Jedoch der Versuch mich in diese gedeutete Welt zu fügen, will mir nicht gelingen. In der ersten seiner Duineser Elegien hat Rilke geschrieben: "Und die findigen Tiere merken es schon, dass wir nicht sehr verlässlich zu Haus sind in der gedeuteten Welt." Die Vereinbarung der gedeuteten Welt mit ihrer Unzulänglichkeit scheint mir die grundlegende Aufgabe zeitgenössischer "Philosophie". Ich erlebe die Kunst als Vereinbarung von Innen und Außen, von subjektivem Erleben und objektiver Erfahrung. Wenn ich Dich recht verstehe ist Dein Cellospiel der äußere Ausdruck Deines inwendigen Erlebens. Wenn ich diesem Spiel zuhöre, stiftet der äußere Ton ein mir eigenes inwendiges Erleben, welches mit dem Deinen gewissermaßen zusammenfällt. Was mehr sollte ich mir wünschen? Du fragst, wie man als Künstler leben sollte. Dir darf ich keine Antwort vorschlagen. Mir selber antworte ich: Als wirklicher Mensch.