Liebe Cristina, Dein Brief macht mir viel Freude. Nachdem ich ihn gelesen hatte, öffnete ich die Kartei mit den Briefen an einen jungen Dichter, welche ich vor etwa drei Wochen angelegt hatte, um meine Erinnerungen zu bestätigen als ich in einem der Liebesbriefe meiner verstorbenen Frau, mit denen ich mich regelmäßig tröste, die Rilkebriefe erwähnt fand. Einst waren diese Rilkebriefe meine Einführung zu Rilke. Ich las sie zuerst als elf-jähriges Kind als ich nur wenig von Dichtung, nichts vom Geschlecht, aber schon sehr viel von Einsamkeit verstand. Meine Eltern waren von Rilkes leiden- schaftlichem Lob der Inwendigkeit stark beeindruckt. Heute finde ich dies Lob ein wenig übertrieben, vielleicht weil es mich überflüssig dünkt der ich mich selbst des öfteren sehr einsam fühle. Du bist eine kluge Frau. Du weißt nicht nur mit dem Cello umzugehen, Du weißt dass um zu gedeihen wir der Geduld bedürfen; du verstehst, Kierkegaard und Rilke ungeachtet, dass wir Menschen nicht nur einzeln leben können, dass wir auch als Herdentiere leben müssen, und Du ahnst wie problematisch und enttäuschend das ängstlich ersehnte zuzweit Zusammenleben werden kann. Ich entdecke: Gesellschaft, mich an andere Menschen binden, mich von anderen Menschen loszulösen, ist das überwältigende Thema, der nicht zu schlichtende Widerspruch der zugleich theoretisch und praktisch die mir noch übrigen Jahre - oder vielleicht nur Monate beherrscht. In der Theorie behaupte ich, dass Vergesellschaftung das Tor zur Objektivität ist, hingegen Vereinsamung und Verinnerlichung der Schlüssel zur Subjektivität. Wir Menschen sind körperlich und geistig unbedingt von Mitmenschen abhängig. Nicht nur meine physische Existenz, auch die seelische, meine Sprache und die mir notwendigen Künste sind Erzeugnisse des Zusammenlebens. Und dennoch bin ich von meinen Mitmenschen bedrängt und habe ein tiefes Bedürfnis allein zu sein. (Als man mich als Militärarzt nach Vietnam schicken wollte, hab ich, der ich an Depressionen litt, dem Stabspsychiater erklärt, ich könnte alle Anpsrüche des Soldatenlebens bewältigen, vorausgesetzt dass ich über ein Einzelzimmer verfügte. Daraufhin bescheinigte er meine Untauglichkeit zum Dienst.) Meine "philosophierenden" Bemühungen haben mich überzeugt, dass die Vergesellschaftungswidersprüche, das Ich-Wir Dilemma das Schloss ist dahinter nicht nur die Geheimnisse meines Wissens - Wahrheit und Unwahrheit -, sondern zugleich die Geheimnisse meines Handelns - Tugend und Laster -, verborgen sind; dass es zu diesen Geheimnissen keine Schlüssel gibt, und keine Linderung als das Verstehen ihrer Unlösbarkeit. Auf den Gebieten des Wissens, habe ich mich überzeugt, dass alle, die Geistes- sowohl als auch die Naturwissenschaften, Erscheinungen der Gesellschaft sind, Übereinkommen betreffs des Wahren und Unwahren in den Bereichen der Geschichte, welche, da die Vergangenheit eine anderweitig unerreichbare Vorstellung ist, als "story", als Gedicht, als Erzählung, als Mythos verstanden werden muss; in den Bereichen der Physik und Chemie als formelle symbolische Darstellungen welche uns unsere tägliches Erfahrung, unsere Beobachtungen, "erklären" und somit unserem "Verständnis" zugängig machen; zuletzt die Mathematik als eine dem Gemüt zusagende gesellschaftliche Dressur der wir uns so eindringend unterwerfen dass sie als notwendig und natürlich erscheint. Auf den Gebieten des "Handelns", habe ich mich überzeugt, dass es einen "freien Willen" nicht gibt; dass wir aus unscheinbaren Gründen tun und lassen; dass - wie Du sagst - wir Herdentiere sind, deren Bewegungen, Handlungen, Gesinnungen von den Bewegungen, Handlungen und Gesinnnungen ihrer Mitmenschen, ihrer Mittiere bestimmt werden; dass wir dem Einzelnen die Ehre und die Schuld zuweisen nur weil er - oder sie - bestimmbar, identifizierbar ist, indessen die Herde unübersichtlich ist und unbegrenzt erscheint. Diese Interpretation wirft ein völlig anderes Licht auf die Geschichte, ins Besondere auf den Holocaust und das fürchterliche Geschehen das uns noch heute so entsetzt und belastet. Von besonderem Interesse für mich ist das Licht welches die "Vergesellschaftung" der Ethik auf die paradoxen Lehren im 53. Kapitel Jesaja wirft: 1 Aber wer glaubt unsrer Predigt, und wem wird der Arm des HERRN offenbart? 2 Denn er schoß auf vor ihm wie ein Reis und wie eine Wurzel aus dürrem Erdreich. Er hatte keine Gestalt noch Schöne; wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte. 3 Er war der Allerverachtetste und Unwerteste, voller Schmerzen und Krankheit. Er war so verachtet, daß man das Angesicht vor ihm verbarg; darum haben wir ihn für nichts geachtet. 4 Fürwahr, er trug unsere Krankheit und lud auf sich unsre Schmerzen. Wir aber hielten ihn für den, der geplagt und von Gott geschlagen und gemartert wäre. 5 Aber er ist um unsrer Missetat willen verwundet und um unsrer Sünde willen zerschlagen. Die Strafe liegt auf ihm, auf daß wir Frieden hätten, und durch seine Wunden sind wir geheilt. Der hier beschrieben wird als Bote Gottes, ist der aus der schuldigen Gesellschaft verbannte unschuldige Verbrecher der als "Sündenbock" die "Sünden"der Gesellschaft zugleich verdeckt und entfernt. Dem Einzelnen aber, der als Herdentier in die Gesellschaft eingegliedert sein muss, ist die Sünde erspart, denn die gute, ethisch "wertvolle" Handlung ist ihm unerreichbar. Als Gesellschaftsmitglied wird er oder sie ungeachtet des "eigenen Willens" zum Unrecht, zur Missetat gezwungen. Ich sehe keinen Ausweg als das Kreuz. In der Praxis, was mein täglichen Leben anbelangt, frage ich mich ob ich überhaupt weiß was Gesellschaft oder was Einsamkeit ist. Denn einerseits ergehe ich mich in keinen politischen oder öffentlich-religiösen Veranstaltungen, bin kein Vereins - kein Klubmitglied, - bin musikalisch zu ungebildet um mich an Kammerspielen oder Symphonie zu beteiligen; meine medizinische Praxis ist erloschen, meiner Familie bin ich ein Ärgernis das sie meidet, werde von ihr nie in das Haus das ich ihr geschenkt habe eingeladen, werde außer von meinem Sohn der drei oder vier Mal in der Woche mit seiner Geige erscheint um drei viertel Stunde zu üben statt zu erzählen und zuzuhören, von keinem besucht. Ich beklage mich nicht; ich berichte was ich erlebe. Alte Leute gehören wenn nicht ins Grab, dann zumindest aus dem Wege ins Altersheim. Letzten Endes bin ich den Menschen jetzt nichts weiter als Merkmal der Sterblichkeit, nichts als Mahnmal des Todes. Sie haben recht sich gegen das fortwährende Erinnertwerden an die Kurzfristigkeit unser aller Leben zu sträuben. Ich nehme es ihnen nicht übel. Und vielleicht ist die Todessehnsucht eine ansteckende Krankheit. Dann wäre ich möglicherweise gefährlich, auch Dir. Du schreibst in Deinem letzten Brief, Du möchtest Dir "darüber Gedanken machen, wie man als Künstler leben sollte." Das ist dieselbe Frage die Du in Deinem Geburtstagsbrief stelltest. Damals fragtest Du: “Wieso sind wir verliebt?” Ich antwortete: Um das eigene Ich zu befestigen. Ich verließ ich mich auf Shakespeare und zitierte Sonett Nr.116, anderweitig auch als Nr. 110 nummeriert: Let me not to the marriage of true minds Admit impediments. Love is not love Which alters when it alteration finds, Or bends with the remover to remove. O no! it is an ever-fixed mark That looks on tempests and is never shaken; It is the star to every wand'ring bark, Whose worth's unknown, although his height be taken. Love's not Time's fool, though rosy lips and cheeks Within his bending sickle's compass come; Love alters not with his brief hours and weeks, But bears it out even to the edge of doom. If this be error and upon me prov'd, I never writ, nor no man ever lov'd. Du hast weder mich noch Shakespeare verstanden. Zugegeben dass es ein dunkles, problematisches Thema ist. Ganz sicherlich ist es ein Fehler von mir Dir Ratschläge zu geben. Kann nur aus meinem eigenen langen Leben erzählen. Ob mein Erleben für Dich gültig ist? Ob ich mich mit eigenen Worten betrüge? Wie könnte ich das beantworten? Bediene mich des Worts Liebe (ἀγάπη in der koine des Neuen Testaments. Ich stehe unter dem Eindruck, im modernen Griechisch hat ἀγάπη die Eigenschaften von eros angenommen, weiß es aber nicht). ἀγάπη ist im Johannes Evangelium die Liebe mit der es heißt, Gott habe die Welt geliebt. (Nicht einmal Sigmund Freund ist es eingefallen zu behaupten dass Gott sich mit der Welt begatten wollte) Den Künstler (oder die Künstlerin) verstehe ich als jemanden dessen Liebe (ἀγάπη) sich auf seine (ihre) Kunst bezieht, aber nicht ausschließlich, denn es gibt vieles in der Welt, einbeschlossen die Natur und andere Menschen, auf welche die Liebe sich erstrecken kann - und muss. Wie ich das 116, Sonett verstehe, besagt es das der Liebende (oder die Liebende) dem Geliebten erhaben ist, und zu lieben vermag und lieben muss unabhängig von Erwiderung. ............. Love is not love Which alters when it alteration finds, Or bends with the remover to remove. O no! it is an ever-fixed mark That looks on tempests and is never shaken; It is the star to every wand'ring bark, Whose worth's unknown, although his height be taken. Es ist diese Liebe welche mit dem Geschlechtlichen vielleicht ab und zu zusammen fällt, - aber nur "zufällig", welche mir in den letzten achtzig Jahren das Leben - und das Überleben möglich gemacht hat. Ich lese aufs Neue die Briefe meines alten Vaters an seine Kinder. Er schließt sie regelmäßig mit seinem Segen; und indem ich sie heute bedenke, fällt mir ein dass das Segnen der eigentliche und eigentlich der einzig passende Ausdruck der Liebe des alten Mannes ist. Ich habe seinerzeit das Program der Gedächtnisfeier für meine Vater handschriftlich aufgesetzt und mit den geheimnisvollen Worten beschlossen: Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden.… Dein Jochen