Liebe Cristina, Mein gestriger Brief verlangt fortgesetzt zu werden, oder so jedenfalls scheint es mir, denn ich war nicht dazu gekommen Dir das Wichtigste das mich beschäftigt auseinander zu setzen, wobei es berechtigt, vielleicht sogar notwendig ist zu fragen, ob es denn überhaupt möglich ist in dem Maße wie ich es beanspruche, über sich selbst Bescheid zu haben, oder ob, wie die Psychoanalytiker behaupten, das Delphische γνῶθι σεαυτόν ein Selbstbetrug ist, womit der Einzelne ihnen in ein Gewerbe pfuscht, zu dem nur sie allein fähig und berechtigt sind. Das zu entscheiden überlasse ich Dir. Man könnte auch behaupten, dass sie Seelenautobiographie eine Art Märchendichtung ist mittels derer man sich über die unabänderlichen Mängel des Daseins hinweg täuscht, ein pseudo-künstlerisches Betragen das einem das eigene Leben annehmbarer wenn nicht überhaupt erst erträglich macht. Auch das ist eine Entscheidung die ich in diesem Falle Dir überlasse. Vor etwa einem Jahr, bei der Einfädelung unsres Briefwechsels schlug ich Dir vor in Betracht des gewaltigen Altersunterschiedes zwischen uns, das Verhältnis des Großvaters zur Enkelin als Muster oder als Vorbild für die Beziehungen zwischen uns, zwischen Dir und mir, zu betrachten, ein Paradigma dessen Genüge ich heute, in Betracht der so lockeren Beziehungen meiner (anderen) Enkelkindern zu mir, bezweifle. Ich werde mir zunehmend bewusst, wie wenig ich von anderen Menschen, meine Enkelkinder einbeschlossen, tatsächlich weiß. Ich vermag die schopenhauersche Behauptung, die Welt sei meine Vorstellung, nicht zu umgehen. Mein Ziel mich selbst zu begreifen werde ich umgehender erreichen, wenn, statt vom vermeintlichen Verstehen meiner Mitmenschen auszugehen, ich vorerst mein eigenes Erleben bedenke und mich auf mich selbst besinne. Als ich fünfzehn Jahre alt war, kurz vor dem Abitur von der Germantown Friends School, bin ich meiner künftigen Ehefrau zum ersten Mal begegnet. Sie heißt Margaret und ist die älteste Schwester meines Schulfreundes Alex, mit dem ich noch heute regelmäßig telephoniere. Der Vater war ein genialer von Bachs Musik begeisterter Lungenspezialist, der alljährlich seinen Familienmitgliedern und ausgesuchten Bekannten, Eintrittskarten zu den Festaufführungen des Bach Chors in Bethlehem Pennsylvania schenkte. Zu den Konzerten im Mai 1946 wurde auch ich eingeladen, der ich meine Leidenschaft für diese Musik ausgesprochen hatte. In jenem Monat wurden Weihnachtsoratorium und H-Moll Messe gesungen. Nie hatte ich Gelegenheit gehabt sie aufgeführt zu hören. Die Musik, und ihr Bild, wie sie vor dem Konzert auf dem Rasen unter den hohen Ulmen stand, hat mich die seither vergangenen 71 Jahre durchs Leben begleitet. An dieser Stelle versiegte mir gestern der Strom der Worte. Ärgerte mich über den mich nun läppisch anmutenden Ausdruck "königinnenlich" den ich im Laufe meines vorigen Briefes erfunden hatte, fragte mich ob der Blödsinn des Feminismus möglicherweise auch die Sprache infiziert hatte, oder ob der Blödsinn des Ausdrucks ein gerechtes Spiegelbild der Dummheit des zeitgenössischen Amazonenkults gelten sollte. Wenn ich Dich mit dieser Darstellung ein wenig ärgere, habe ich meinen Zweck erfüllt. Vielleicht aber lähmte die Fortsetzung dieses Briefes mein Bewusstsein dass ich im Begriff war Dir ungehöriger Weise von etwas mir Heiligem zu berichten, das durch Aussprache, Beschreibung, Analyse entehrt würde. Tatsache aber ist, dass ich mich heute in einem Gemütszustande befinde der mit dem den ich zwischen 1946 und 1949 erlebte, symmetrisch und spiegelbildlich vergleichbar ist. Damals, in jenem Tamino-Augenblick, entzündete sich eine Sehnsucht von der ich sechs Jahre später, als sie mich heiratete durch ihre Liebe erlöst wurde. Darauf folgte die selig ungetrübte, märchenhafte Ehe von dreiundsechzig Jahren. Mit ihrem Sterben entzündete sich eine neue Sehnsucht. Dass mir in nicht zu geraumer Zeit Erlösung auch von der zweiten Sehnsucht gegönnt werden wird, ist in den prophetischen Worten meiner seligen Mutter, eine ausgemachte Sache. J.M. amtlicher kaliforniensischer Privathofnarr